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Interview mit Saskia Sassen 2009

World-Information City Paris 2009

WII: In Ihrem Vortrag verwenden Sie die beiden Begriffe „Macht“ und „Machtlosigkeit”.

Saskia Sassen: Der Sinn dieser Art von Analyse ist es, zu wieder zu entdecken, wie Macht und Machtlosigkeit erzeugt werden und wie vielschichtig diese Phänomene in ihren positiven wie negativen Dimensionen sind. Es ist ja ein konstruktivistischer Gedanke, dass diese Phänomene nicht einfach existieren, sondern gemacht werden. Diese Herangehensweise gibt uns die Möglichkeit herauszufinden, wie sogar eben jene, die machtlos sind, in bestimmten Momenten doch Geschichte schreiben können. Wenn Menschen sich in einer Menge (multitude) vereinigen, sind sie deshalb noch nicht automatisch ermächtigt, aber sie können trotzdem Geschichte schreiben. Vor und nach dem „Moment der Menge“ sind die einzelnen Individuen vielleicht machtlos, aber dieser eine Moment verleiht ihrer Machtlosigkeit Komplexität. Meistens dauert es viele Jahre, in manchen Fällen sogar mehrere Generationen, bis wir wissen, ob diese machtlosen Menschen in einer bestimmten Gesellschaftskonstellation tatsächlich Geschichte geschrieben haben. Nehmen wir zum Beispiel die Anstrengungen der Schwarzen in den USA, Bürgerrechte zu erlangen. Dieser Kampf dauerte fünf oder sechs Generationen, aber am Ende war er erfolgreich, da die Menschen nicht ermüdeten, große Opfer erbrachten und sogar ihr Leben dafür ließen. Diese Anstrengungen erzwangen die Bürgerrechte vom politischen System, wenn man das so sagen will.

WII: Sie verwenden die Idee der „befreiten, zivilen Territorien“ und der „Entnationalisierung“. Wie könnte man diese Konzepte erklären?

Saskia Sassen: Die Kategorie „Territorium“ interessiert mich schon seit längerer Zeit. „Territorium“ ist eine Konstruktion, eine Konstruktion der Macht. Wenn eine Stadt von Krieg und Anschlägen heimgesucht wird, dann entdecken wir, die BewohnerInnen, dass wir „ZivilistInnen“ sind. Das sollte uns eigentlich schützen, aber heute ist das ein Zustand tiefster Verwundbarkeit und Machtlosigkeit. Natürlich sollen wir den Eindruck bekommen, dass wir geschützt sind, aber es ist eine Tatsache, dass wir nur sehr wenige Schutzmechanismen haben. Daher gehe ich von einer rein hypothetischen Frage aus: was würde geschehen, wenn wir ein Recht darauf hätten, „zivile Territorien“ in einer Stadt zu haben, wie eine Art Sperrbezirk. Ich glaube, eine der Folgen wäre tatsächlich, dass wir herausfinden würden, in welchem Ausmaß der Staat Territorium besitzt. Wir mögen unser Haus besitzen, aber der Nationalstaat besitzt und kontrolliert das Territorium. In manchen Fällen trifft das auch für multinationale Konzerne zu, die Teil dieser Koalition sind.Der zweite Begriff, an dem ich interessiert bin, , ist „Ent-Nationalisierung“. Er entstand aus folgender Fragestellung heraus: Kann das Vokabular der Globalisierung alle Veränderungen, die täglich passieren, sowie alle Zustände und Ereignisse, die damit in Zusammenhang stehen, wirklich einfangen? Diese Veränderungen betreffen zwar vielleicht nur Teile unseres Lebens, aber sie sind trotzdem grundlegend. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Vokabular der Globalisierung gerade nicht außerhalb des Nationalstaats entsteht, weswegen ich versuche zu verstehen, in welchem Ausmaß Vorgänge im Inneren des nationalstaatlichen Apparats Teil dieses Transformationsprozesses sind. In einem zweiten Schritt kam dann die Suche nach dem Begriff, mit dem man dieses Phänomen beschreiben kann. Eine Möglichkeit, die mir plausibel erschien, war „Ent-Nationalisierung“. Es ist zugegebenermaßen ein Begriff, der Verwirrung stiftet, da zum Beispiel für die Franzosen „dénationalisation“ gleichbedeutend ist mit „Privatisierung“. Diese ist ein Teilaspekt dieses Phänomens, aber ich versuche, den Begriff in einem weiteren Sinn zu verwenden. Das bedeutet auch, dass wir als BürgerInnen nationale Instrumente und Institutionen benutzen können, um globale Politik zu machen. Und das zwar in einem formellen, verbindlichen, nicht nur informellen, symbolischen Sinn.

WII: Wo sehen Sie heute den Unterschied zwischen dem alten Problem der Zentralisierung und neuen Arten der Fragmentierung in Städten? Gibt es ein Ende der „global city“?

Saskia Sassen: Nein, ich glaube nicht, dass es ein Ende gibt, aber das heißt nicht, dass es sich um die gleichen global cities handelt, die ich seit Anfang der Achtzigerjahre beschrieben habe. Damals war das große Thema „Wie operieren diese global agierenden, mobilen, oft hochgradig technisierten Firmen? Berühren die den Boden überhaupt nicht mehr??“ Daher war ich sehr stark daran interessiert, genau den Moment zu erfassen, an dem sie ich physisch am Boden manifestieren. Warum? Weil dieser Moment das Signal war, dass sie etwas brauchten – und zwar, dass sie etwas vom Nationalstaat brauchten. Daher ergab sich eine Situation, in der das Nationale in der Gegenüberstellung mit diesen sehr einflussreichen globalen Akteuren durchaus auch an Macht gewinnen konnte. Ich glaube, dass heutzutage dieser Bedarf aus vielen zusätzlichen Faktoren entsteht und ein hochkomplexes Phänomen bildet.

Einer ist zum Beispiel die Urbanisierung vieler ökonomischer Faktoren. Viele große Firmen, etwa Fabriken, aber auch Minen oder Steinbrüche, kaufen mehr spezialisierte Dienstleistungen an als noch vor dreißig Jahren: Versicherungen, Buchhaltung, Öffentlichkeitsarbeit, Rechtsberatung und vieles mehr. Das heißt, dass es auch in Wirtschaftsräumen, die von der Güterproduktion dominiert werden wie in Deutschland, trotzdem zu einem Wachsen der Städte kommt. Das geschieht, selbst wenn die Großindustrie außerhalb der Städte angesiedelt ist. Diese "intermediäre Ökonomie“ trägt also entscheidend zum Wachstum der Städte bei. Wenn man sich die Statistiken für alle sogenannten „entwickelten“ Staaten ansieht, dann ist dieser Sektor an Firmendienstleistungen derjenige, der am stärksten wächst, weil er sowohl die Wissensökonomie wie auch die klassischen produktiven Sektoren bedient.
Städte funktionieren aber nicht nur als ökomische Ballungsgebiete, sondern auch als kulturelle Magneten, gerade für neue Formen der multikulturellen Identitäten. Es gibt also viele andere Faktoren, die mitbedacht werden müssen, auch wenn ich mich bisher nicht damit beschäftigt habe: Fragen der Lebensstile und die Tatsache, dass viele junge Menschen in der Stadt leben wollen, weil sie die Vorstädte tödlich finden. In den USA ist zum Beispiel unter Frauen die Gruppe der jungen, frischvermählten Frauen in den Suburbs am stärksten suizidgefährdet. Ich weiß nicht, ob diese Zahl noch zutrifft, aber bis vor zehn Jahren war das so. Es kommen also viele Dinge zusammen, die das Wachstum der Globalen Städte begünstigt.

Was mich besonders interessiert ist, dass Global Cities Orte der Macht sind. Nur dort gibt es die Möglichkeit, unternehmerische Macht oder Finanzmacht aufzubauen, weil es genau dort die Ressourcen dafür gibt. Daher ist die global city immer auch ein vieldeutiger Zustand. Sie ist ein tatsächlicher Schauplatz der realen Welt, eine Extremzone, in der sich alle Gegensätze treffen. Auf der einen Seite gibt es die mächtigsten Akteure, auf der anderen Seite gibt es MigrantInnen , Queere und andere Bevölkerungsgruppen, die politische Projekte haben und politische Ziele verfolgen. Sie mögen keine politische Macht erlangen, aber sie machen trotzdem Geschichte. Daher ist die Global City eine Extremzone. Heute wird oft die Zahl von 75 global cities genannt, was bedeutet, dass eine Globale Stadt zu sein ziemlich normal wird. Alle diese Städte verfügen über gewisse, spezialisierte globale Funktionen.

Aber dennoch sind all diese Städte strategische Orte: es gibt große Mittelklassen, große standardisierte Sektoren, aber sie haben auch diese Qualität der Extremzonen. Diese Qualität werden sie auch behalten, da Ungleichheiten von unserem System weiter erzeugt werden, teils daher, da es sich um ein kapitalistisches System handelt.


WII: Welche Rolle spielt Technologie in diesem Kontext? Wie können sie für neue Formen der Mikropolitik eingesetzt werden?


Saskia Sassen: Technologie ist ein vorherrschendes Paradigma, aber das sollte sie nicht sein. Technologie sollte auch in einer anderen Weise funktionieren. Wir sollten uns Menschen in ihren spezifischen Lebenskontexten ansehen, egal ob Großmütter oder Koranschüler, und uns genau ansehen, welche Praktiken sie haben. Danach sollten wir uns die Frage stellen, wie wir ihr Wissen und ihre Strategien online bringen können und wie wir ihnen Instrumente in die Hand geben könnten, ihnen mehr Macht zu geben. Es sollte also ein Zugang zu Technologie gefunden werden, der auf dem bereits vorhandenen Wissen der Menschen aufbaut, ihre Bedürfnisse erkennt und darauf basierend neue Software produziert. Das ist meine Hoffnung, dass wir aufhören, Technologie als Paradigma zu sehen, vor allem in den USA. Langsam spürt man schon Veränderungen, aber über lange Zeit wurde nur in zwei Dimensionen gedacht: einerseits Zugang zur Technologie, andererseits Kompetenz im Umgang damit. Das ist aber nicht genug, da es diejenigen, die entweder keinen Umgang oder keine Erfahrung mit Technologie haben, auf Unwissenheit reduziert, dass sie „ausgeschlossen“ waren. Lange Zeit wurde das Problem so gesehen, als müsste man ihnen nur den Umgang beibringen und ihnen Zugang zu einem Computer verschaffen, um sie in den Kreis der Wissenden zu bringen. Das ist eine Herangehensweise, die ich ablehne. Wir, die wir schon von innen sprechen, müssen uns vielmehr die Frage stellen: Was machen diese Menschen schon jetzt? Wie können wir dieses Wissen und diese Praktiken online bringen und sie dadurch ermächtigen?“

Saskia Sassen ist Lynd Professor der Soziologie an der Columbia University. Ihre neuen Bücher sind "Das Paradox des Nationalen: Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter
" (2008) und "A Sociology of Globalization" (2007).
 

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