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Fiktion und Handlungszwang

Aus: Fiktion und Wirkungsmacht – Texte zur Zukunft der Kulturpolitik, Konrad Becker, Felix Stalder Hg., Löcker 2016

Fiktion beeinflusst das Leben. Häufig mit tödlichem Ausgang. Jahrhundertelang wurden medizinische Behandlungsmethoden auf Grundlage einer fiktiven Balance von nass/trocken bzw. heiß und kalt angewendet. Diese fiktiven Heilpraktiken wurden meist mit dem Leben bezahlt. Ungeachtet wissenschaftlicher Objektivierung, vermeintlicher Säkularisierung oder rationalistischer Ökonomisierung sind Fiktionen wirkmächtig wie nie. Beispielsweise in der von Fiat Geld bestimmten Wirtschaftslogik und der immateriellen Welt der Finanzspekulation. Schon der Akt der Assoziation von Menschen bezieht sich auf eine Abstraktion von Selbst und Gemeinschaft. Bereits im Gründungsmythos von Gemeinschaften werden Hörensagen und Rollenmodelle zu Schleusentoren politischer Handlungsräume. Politische Formen haben eine Geschichte der sakralen Umformungen. Nach einem vermeintlichen "Ende der Politik" in technokratisch verwalteten Gesellschaften wird Fiktion grundlegendes Mittel einer kulturell getragenen Verhaltenssteuerung. Erzählungen und die Technologien der Imagination werden für politische Wirkungskräfte ausschlaggebend. Das Interesse konzentriert sich jedoch zunehmend über die trans-historischen Metanarrative, die sogenannten "Grand Narratives" hinaus auf mikronarrative Interaktionsflüsse.

Anwendungen konstruktiver Illusion sind vielfältig und ein wesentliches Element strategischer Planung. Fiktion reicht als heuristisches Instrument zur Erforschung von Szenarien über die rechnerische Extrapolation des Wissens hinaus. Narrative Intelligenz spekuliert über denkbar mögliche Erklärungen oder Begründungen ebenso wie über alternative Handlungsstränge oder unterschiedliche Systemlogik. Nicht zuletzt ist Fiktion eine Waffe gegen den traumlosen Schlaf einer unerträglichen Weltgestaltung und durchbricht die nervöse Sterilität sogenannter Realität.

 

Kleine Geschichten und große Erzählungen

Menschen als geborene Geschichtenerzähler verstehen ihre Welt, indem sie sich in eine größere Hyper-Erzählung einbetten, die sie als Realität bezeichnen. Ihre eigene Geschichte erzählend, entscheiden sie aufgrund von Beschreibungen der Möglichkeiten anstatt der Optionen selbst. Ein Verständnis der Welt bildet sich aber auch durch eine heuristische Handhabung der Umgebungen in Bezug auf Bedeutung und Zweck. Der Mangel an Auswahl zuverlässiger Mythen schafft Unsicherheit. In der chaotischen Unsicherheit des Lebens geben besondere Fähigkeiten der Mustererkennung Auftrieb. Übersteigerte Fähigkeiten, Muster zu sehen und Erzählungen zu schaffen, führen allerdings schnell zu einem störenden Übermaß an Zusammenhängen. Das Risiko einer abergläubisch selbstbezüglichen Sicht auf Ereignisse ist nur eine der Nebenwirkungen. Darstellungen von Kausalität im Ablauf von Ereignissen durch eine Tendenz, alle Verhaltensweisen in narrative Modelle einzubauen, führen leicht zu Irrtümern. Fehleinschätzungen sind aber gleichzeitig ein notwendiges Element der Fähigkeit, Emotionen in intersubjektive Situationen projizieren zu können und sie handhabbar zu machen.

Verstrickt in ein Gespinst von Erzählungen, vermeidet die Interpretation sensorischen Inputs den Widerspruch zu vorherigen Überzeugungen. Nicht zuletzt ein Grund für den starken Beharrungsdrang bei Fehlern. Ereignisse werden nach wiederkehrenden Mustern in kleine Geschichten gruppiert. Handlungen werden durch beschreibende Handlungsschemas legitimiert. Spinnen extrudieren ihre Seide mit unterschiedlichen Drüsen in einer Vielfalt von Fasern und einer Festigkeit vergleichbar mit Stahl. Individuelles Verhalten wird durch narrative Konstruktion beeinflusst. Durch das Repertoire an dramaturgischen Mustern eingeschränkt, bleibt es gefangen im Netz der narrativen Fäden des Selbst.

 

Brandbeschleunigte Selbstläufer

Pheme, die Tochter der Hoffnung, personifiziert Ruhm und Berühmtheit in der griechischen Mythologie. Mit Flügeln und Posaune ausgestattet, initiiert und fördert sie Kommunikation. Fama, mit vielen Zungen, Augen, Ohren und Flügeln dargestellt und ständig die Angelegenheiten von Göttern und Sterblichen auskundschaftend, ist die römische Entsprechung. Sie lebt in einem Haus mit 1000 Fenstern, um alles mitzubekommen. Die Gunst der Fama bedeutete Prominenz und ihr Zorn Skandal. Tratsch, in menschlichen Organisationen endemisch, markiert Möglichkeiten, Konflikte anzusprechen. Kleine Klatschgeschichten, die zunächst nicht allzu viel Information enthalten, werden oft als leeres Geschwätz betrachtet. Sie liefern aber einen bedeutenden Artikulationsträger, wo erzählerische Details wichtige Hinweise auf spezifische Konflikte geben. Die Glaubwürdigkeit von Gerüchten stützt sich dabei maßgeblich auf eine Anpassung an die Normen des Hörensagens und folgt aufwendigen sozialen Protokollen und situativen Abstimmungen. Zu viel Individualisierung und Abweichung vom vorgegebenen Schema riskiert Skepsis oder Spott.

Individuelle Realität entsteht in Übereinstimmung mit Erzählungen, die einen Bezugsrahmen in der Echokammer des Hörensagens etablieren. Medientechnologien interagieren mit dem Imaginären auch dadurch, dass Verfügbarkeitsheuristik Beurteilungen und Entscheidungen formt. Das Publikum wird insbesondere von den Ideen und Halbwahrheiten beeinflusst, die in der Medienlandschaft regelmäßig wiederkehren. Darstellungen, die nicht massiv übernommen und reproduziert werden, sind in dieser Kalkulation sozial nicht existent. Erzählungen können durch mimetische Affinität rasch Verbreitung finden, aber zunächst muss eine Figur Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, um imitiert zu werden. Themen, über die nicht prominent berichtet wird, werden auch in der Bedeutung massiv unterschätzt und produzieren dementsprechend verzerrte Ansichten. Im Gegenzug unterstützt die von Medien vielfach wiederholte Geschichte eines Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär die Mythen über Aufstiegschancen aus unteren sozialen Klassen. Der unbegründete Glauben an scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten und Aufstiegschancen lässt Ungleichheit viel akzeptabler erscheinen. Ein nicht nur für die Medieneigentümer wünschenswertes Ergebnis.

Menschen verstehen andere durch das Einbinden in kleine Geschichten und Illusionen des Begreifens. Narrative Empathie filtert und moduliert neuronale Grundlagen für Nachahmung. Tratsch, das Kerngeschäft menschlicher Kommunikation, ersetzt soziale Fellpflege und gegenseitiges Lausen durch Sprachakte. Es handelt sich dabei weitgehend um eine Praxis kleiner Geschichten über wer mit wem, das Anprangern von Trittbrettfahrern oder Ausgestoßenen, und ungeklärte Konflikte.

 

Gerüchte aus der Küche

Das wissenschaftliche Interesse an Gerüchten beginnt im neunzehnten Jahrhundert im Fach der Psychologie und verlagert sich dann zu Sozialpsychologie und Soziologie. Während sich die Gerüchteforschung in den 1990er Jahren meist im Bereich der Volkskunde urbaner Legenden konzentrierte, reicht die Analyse inzwischen von einer Politik des Glaubens in Informationsumgebungen bis hin zu Divergenzen in Vorstellungen über Wahrheit und Falschheit. Mit der Wirkung von Gerüchten begann die Revolte des indischen Subkontinents gegen das britische Empire. Anlass gab ein Tabubruch von angeblich mit Kuh und Schwein gefetteten Büchsenpatronen, die hinduistische und muslimische Soldaten mit den Zähnen öffneten, um die Gewehre zu laden. Mit Rassenunruhen und den Revolten der 1920er Jahre begannen amerikanische Untersuchungen zur Gerüchtekontrolle. Wenn die nationale Sicherheit gefährdet und die Zivilmoral bedroht ist, wird die sozialwissenschaftliche Psychologie des Gerüchts relevant.

"Eine Masse, die frei von eisernen Ketten ist, hat Ketten aus Silber zu akzeptieren", kommentierte Harold D. Lasswell in Propaganda Technique in the World War. Um den im Zweiten Weltkrieg zirkulierenden Gerüchten entgegenzutreten, entstehen mehrere Projekte und aufgrund der sich schnell verbreitenden Munkeleien durch den Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1942 eine erste sogenannte Gerüchte-Klinik in Boston. Unter dem Eindruck der subversiven Kraftentwicklung von informellem Gerede, suchten die Behörden Techniken, um gegenzusteuern. Call Center für besorgte Bürger werden eingerichtet, um virale Kommunikation von Gerüchteküchen zu beeinflussen. Schon bald aber erwiesen sich Gerüchtekliniken für Zeitungen als entscheidend. Offiziell nach dem Krieg heruntergefahren, ließ das Bürgerkriegsgerede nach der Ermordung von Martin Luther King es 1968 angebracht erscheinen, Techniken der Wahrheitsprojektion einsetzen. Heute haben digitale Kommunikation und regionale 24-Stunden-Kanäle diese Methoden verändert. Digitale Netzwerk-Technologie vereinfacht das Verbreiten von Gerüchten und in Krisenzeiten geht eine Legende um die Welt, noch bevor eine Wirklichkeit gebootet hat.

 

Rollenspiele mit Affektsteuerung

Einem Weg dauerhaft zu folgen und das Verhalten darauf anzupassen, ist eine Frage der Motivation. Eine höhere Veranlassung, gewisse Vorgaben zu akzeptieren, kann äußerst wirkungsvoll sein. Um an privaten Problemen orientierte Individuen zu motivieren, sich an bestimmte Regeln zu halten, empfiehlt es sich, sie als natürliche Ordnung, als "Naturgesetze" erscheinen zu lassen. Viele komplexe Legenden wurden erfunden, um eine ganz spezifische Ordnungsstruktur als universal und grundlegend darzustellen. Wenn beispielsweise eine Erzählung von Freiheit allein den Besitz von Dingen respektiert, erklärt sie damit auch besitzergreifenden Individualismus zur ausschließlichen Freiheit. Um den vorgezeichneten Pfad des imaginierten guten Lebens beschreiten zu können, beinhalten politische und affektive Bindungskräfte den normativen Zwang zu Rollenspielen. Die Spielregeln im Fantasieleben der Normativität sind ein Weg, um Gefühle der Berechtigung zu legitimieren.

Dass die legendär kühle Distanziertheit rationalen Denkens nur eine emotional geformte rhetorische Pose ist, hat sich mittlerweile längst herumgesprochen. Skeptizismus als Standardmodus des Intellektuellen ist meist nur leerer Gestus der Überheblichkeit. Wer sich über vieles informiert, glaubt "nahe am Geschehen" zu sein, Bescheid zu wissen oder sogar Insider zu sein, der weiß, was wirklich abgeht. Dabei handelt es sich allerdings weniger um ein eigenes Verständnis, sondern vielmehr um die Bestätigung, in der Logik vorstrukturierter Abläufe denken lassen zu können. Dieses vermeintliche Insiderwissen, oder Phantomwissen, bestätigt dann immer aufs Neue, dass es keine Möglichkeit zu Veränderung gibt.

Taxierenden Blicken ausgesetzt, zwingt sich die Schlange einer Supermarktkasse in die Form absurder Erzählungen. Illusionäre Empfindungen einer narrativen Teilhabe ermöglichen diffuse Gefühle der Berühmtheit als Teil einer eigenen glamourösen Fiktion der aktiven Imagination. Von Hoffnungen und Sehnsüchten bestimmte Erzählungen einer Fantasie des Lebens bilden eine Illusion von Intimität ab. Soziale Akteure bespiegeln sich im Muster ikonographischer Stereotypen der Modelle sozialen Erfolgs. Ähnlich einem Ego-Shooter Computerspiel mit virtuellen Bonuspunkten in einer dreidimensionalen Welt, erfordern Accessoires und persönlicher Beitrag zu dieser Inszenierung meist einen hohen Aufwand. Endzeitliche Offenbarungen der ökonomisierten Infosphäre produzieren exaltierte Narrative, die immer mehr unentgeltliche Arbeit zur Besicherung spekulativer Finanzwetten mobilisieren. Die Affektwelt der öffentlichen Sphäre ist von abgestimmten Projektionen bestimmt und Schauspielkunst nach vorgegebenen Skripts wurde zur Grundlage erfolgreicher Geschäftsbeziehung. Gefühle sind keine Privatsache mehr, wie noch im Arbeitsverständnis der großen Konzerne der 1950er und 1960er Jahre. Heute verlangt der Job emotionelles Engagement.

Wenn kognitiven Prozessen fundierte Grundlagen für Entscheidungen fehlen, werden Verhalten oder automatisierte Formen der Auseinandersetzung von Affekten gelenkt. In komplexen Situationen widersprüchlicher Alternativen und mehrdeutigen Unsicherheiten sozialer Beziehungen dominieren Affekte. Sequenzielle Verhaltensmodi kodieren Gefühle einer Situation, die zu narrativen Bildern komprimiert werden. Ein affektives Gewebe von Themensträngen bildet den kontextuellen Rahmen für eine Matrix von Werten. Urteilsfindung unter einem Mangel an Informationen erfolgt oft über kulturelle Anpassung. Bei strukturellen Informationsdefiziten ist das Nachmachen anderer zunächst durchaus vernünftig. Aber durch eine gemeinsame Meinung kann auch eine Mehrzahl der Machtausübung von einigen wenigen unterworfen werden. Abgesehen von Fakten, Mythen, Vorstellungen über Fortschritt oder Niedergang, beziehen sich diese verallgemeinerten Annahmen oft auf Informationen, die bestehende Vorstellungen in unangemessener Einschränkung auf vorgewählte Segmente des Sichtbaren bestätigen. Dies zeigt, dass die Grundlagen politischer Operabilität der Regierenden weitgehend auf Fiktionen beruhen.

 

Dominanz durch Ordnungsmacht

Rechtfertigung der Dominanz einer herrschenden Gruppe erfordert Erzählungen, die plausibel genug sind, um den Glauben an ihre Wirklichkeit zu schaffen. Soziale Konventionen sind nicht in Wissen oder epistemischer Sicherheit verankert, sondern legitimieren sich durch intersubjektive Rituale. Beispielsweise ist die Idee von Armut als ein freiwillig selbst herbeigeführter menschlicher Zustand bei privilegierten Kreisen im Westen schon seit der Reformation sehr beliebt. Das sogenannte positive Denken sieht Armut als aktive Verweigerung, sich dem Reichtum zu öffnen, und fügt dem Schaden den Spott hinzu. Auch neofeudalistische Strukturen gebieten über narrative Begründungen. Bei Auslagerung von Unternehmensprozessen in Weltgegenden mit geringem Rechtsschutz, wird ein Verhältnis, das eher einem Lehnsherrn entspricht, beispielsweise als Partnerschaft deklariert. Aber wie kommt es dazu, dass Staaten Kapital nicht zugunsten ihrer Bürger, sondern für den Profit einiger weniger irgendwo anders regulieren?

Nur schwer lassen sich solch haarsträubende Geschichten berichten, ohne die Fassung zu verlieren. Das Narrativ, dass in der repräsentativen Demokratie einige wenige die Interessen aller anderen vertreten, ist jedenfalls in der Krise. Nicht zuletzt durch demokratisch legitimierte Oligarchien, Plutokratien und die aristokratischen Allüren der politischen Klasse. Das daraus resultierende Unbehagen äußert sich zuletzt auch in übersteigerten Hoffnungen, dieser Problematik durch simple Software beikommen zu können. Leider können Softwarelösungen zur Reduzierung des Transaktionsaufwands von Entscheidungsfindungen eine grundsätzlichere Auseinandersetzung nicht ersetzen.

Politische Entscheidungen im Liberalismus basieren auf konstitutionellen Normen, die dem Gesetz und seiner Interpretation unterliegen. Politische Handlungen sind von der Beurteilung eines Gerichts und einer spezifischen Interpretationsweise eines Textes abhängig. Dadurch werden Juristen als vorgebliche Verteidiger rationaler Entscheidungsfindung uneingeschränkt zu Herrschern in der Interpretation von Wirklichkeit. Ein System versachlichten Deismus mit einer objektivierten Priesterkaste, die dem Wunder abhold ist. Im Idealfall sind Gesetze vernunftgeleitet, allerdings immer von einer geleiteten Vernunft. So wie Märkte auf wundersame Weise von unsichtbaren Händen gesteuert werden. Von Säkularismus und dem damit verbundenen Fortschrittsgedanken bleibt wenig mehr als ein Mythos. Schon die Konstruktion von Legitimität bricht mit der Welt der Fakten und der rationalen Logik. Allerdings ist der Ausnahmezustand, das Regieren durch Sonderdekrete, keine Alternative. Oder neu erfundene Kategorien wie die des "Ungesetzlichen Kombattanten", die eine radikal neue Rechtsauffassung implementiert, bei der jemand bei einem Verstoß alle Rechte verliert.

 

Mythologie der Menschenbilder

Monströse Zerrbilder des Menschen als pseudo-darwinistischem Killeraffen sind modernisierte Erzählungen der Erbsünde. Diese wirkungsmächtigen Bilder der menschlichen Natur legitimieren repressive Ordnungssysteme und blenden kulturelle Aspekte weitgehend aus. Soziobiologie und Evolutionspsychologie liefern Erzählungen vom Eigennutz, um diese Natur zu imaginieren. In einer Welt des gegenseitigen Austauschs, wo sowohl das Selbst als auch jeglicher Nutzen von vielfältigen transpersonalen Beziehungen bestimmt wird, ist solch gelehrte Unwissenheit das Ergebnis langer Ausbildung. Denn die menschlichen Leidenschaften für Macht oder Geld sind soziale und kulturelle Konstruktionen. Wenn alles "Ständische und Stehende verdampft", bietet Eigentumsbesitz Surrogat-Erzählungen für das Selbst und Strategien, um den Blick in den Abgrund zu vermeiden. Getrieben vom unstillbaren Verlangen einer libidinösen Orientierung am Haben, opfern die besitzenden Klassen in einem rauschhaften Wahn der Pleonexie, der unerbittlichen Göttin des Eigennutzes. Auch wenn das Narrativ kleiner oder größerer Gräuel aus der Chronik des Boulevards den Blick auf systemische Gewalt und seine Mittäterschaft verdeckt. Desinteresse an strukturellem Unrecht ist das Vorrecht der Unterdrücker, allerdings kaum eine demokratische Tugend. Von manchen gerne mit "reinigend" referenziert, verdunkelt implizite Gewalt Zusammenhänge und folgt einem Reinheitsgebot, das vor allem im Opfer des anderen besteht. Die Wirkung dieser systemischen Situationstragödien lässt sich auch am Erblühen neuer psychiatrischer Symptome ermessen.

So wie die Mythologie den Götterhimmel ordnet, strebt die Wissenschaft nach eleganten Theoriedesigns. Aber schon leichte Veränderungen der taxonomischen Hierarchie stürzen die Ordnungscharakteristik des schönen Speicherbank-Designs in hässliche Tumulte. Fakten transformieren zu Geschichten, um sie besser erinnern zu können. Zuordnen von Bildern und Bewegung, Ablaufverknüpfungen und räumliche Organisation verankern diese Handlungsbögen in den Tiefen des Langzeitgedächtnisses. Mnemonische Systeme nützen das ohne einen Anspruch von Objektivität. Sie verwenden narrative Strukturierung der Phantasie und visuelle Verankerung von Informationen als Speicherverfahren einer Geometrie des Denkens. Nicht wie die Wiedergabe einer Schallplatte, sondern eher eine taxonomische Organisation von vertrauten Gruppierungen erinnerbarer mentaler Bilder, die Aktualitäten in narrative Ketten bindet. Mythopoetische Erzählungen bieten Modi des Verständnisses jenseits von Dialektik, wo "Derjenige, der die Geschichten erzählt, die Welt regiert." Oder wie Winston Churchill es ausdrückte: "Die Geschichte wird freundlich zu mir sein, weil ich sie zu schreiben beabsichtige". Weil Imperien ihre eigene Realität schaffen, verachten Imperialisten ein genaues Studium der Welt. Aber wenn die Gegenwart in offener Antizipation die Zukunft ausspeit, frisst sich die Vergangenheit in sie hinein und die Zeitlinien verwickeln sich. Die Zukunft, besser bewacht als die Vergangenheit, kann durch die Rückeroberung des Gedächtnisses beeinflusst werden.

 

Freie Assoziation statt Zwangshandlung

In klassischer Literatur und historischem Drama stellt vorwiegend die Aristokratie das Personal für die Handlung. Einer arbeitenden Bevölkerung wurde aufgrund ihrer sozialen Lage kein reflektiertes Seelenleben zugestanden, kein Eigenleben, aus dem sich dynamische Konflikte darstellen lassen könnten. Durch die Instrumentalisierung der Subjektivität im kognitiven Kapitalismus werden Rollenspiele als Arbeitsroutine quasi-demokratisiert und die Selbstdarstellung zur Bürgerpflicht. Jeder hat nun seine Bühne und auch wenn niemand zuschaut, so fällt doch auf, wer aus der Rolle fällt. In Slapstick-Komödien tritt dementsprechend genau der allerschlimmste Fall ein und in Horrorfilmen zwingt diese Logik den Darsteller dazu, immer exakt das Falsche zu tun. Die neurotischen Handlungsfäden traumatischer Dramen zeigen Probleme des Identität und narrativer Empathie anhaftenden Wiederholungszwangs.

Im Zeitalter geplanter Obsoleszenz blühen Kreativindustrie-Ideologeme auf dem Boden einer Konvergenz neoliberaler Denkungsart und einem Post-68er Quasi-Boheme Milieu. Die sogenannte Kreativwirtschaft, Leitbild eines neuen Prekariats, erschließt in immateriellen Wertschöpfungsketten einer Industrie der Affektwirkung den Innenraum des Subjekts. Akkumulierte Symbole ökonomisierter Ästhetik unterstützen illusionäre Handlungsfäden in den widersprüchlichen Überzeugungen komplexer Welten. In den Nährlösungen narzisstischer Persönlichkeitskulte wächst ein Zwang zu Distinktion, Unterscheidung und Ungleichheit. Diesem hysterischen Mystizismus vermeintlicher Innovation und Differenzierung ist mit dem mittlerweile diskreditierten traditionellen Antiobskurantismus längst nicht beizukommen.

Erzählungen, jenseits einer Fiktion transparenter Kommunikation, vermitteln nicht nur Ungesagtes, sondern Unsägliches, Unsagbares und Inkommensurables. Unbegreifliches kommunizierend und über das, was unmöglich zu verstehen ist. Freie Handlungsräume sozialer Kommunikation zu erkämpfen, verlangt grundlegende Auseinandersetzungen mit den Wirkungen und der spekulativen Anwendung von Fiktion. Die kritische Reflexion von Gebilden der Einbildungskraft ist deswegen eine dringend notwendige politische Praxis.

 

 

Der vierte Band in der Reihe der Texte zur Zukunft der Kulturpolitik untersucht Narrative auf ihre gesellschaftliche Wirkungsmacht und diskutiert die politischen Zusammenhänge von Fiktion und Fakten.

Eine Veröffentlichung des World-Information Institute mit Beiträgen von Konrad Becker, Eva Horn, Fran Ilich, Albrecht Koschorke, Andrea Roedig, Ferdinand Schmatz, Ove Sutter, Peter Lamborn Wilson und Sabine Zelger

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