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Nischen im Flickenteppich Kulturelle Fragmentierungen der Stadt

Unsere Städte driften auseinander. Dafür gibt es zwei Bündel von Gründen, die sich gegenseitig beeinflussen, aber unterschiedlichen Dynamiken folgen. Das eine Bündel ist sozial, das andere kulturell.

Unsere Städte driften auseinander. Dafür gibt es zwei Bündel von Gründen, die sich gegenseitig beeinflussen, aber unterschiedlichen Dynamiken folgen. Das eine Bündel ist sozial, das andere kulturell. Im folgenden werde ich mich hauptsächlich auf das zweite konzentrieren und dort insbesondere auf den Zusammenhang zwischen der kulturellen Fragmentierung der städtischen Lebenswirklichkeiten und dem gleichzeitigen Bestreben der Städte, eine einfache, kohärente kulturelle Identität zu formen, um sich damit im internationalen Städtemarketing positionieren zu können. Zunächst allerdings einige Eckdaten zur sozialen Polarisierung der Städte.

Nachdem sich die Politik unter dem Druck des Kalten Krieges recht erfolgreich daran machte, soziale Ungleichheiten zu verringern und soziale Mobilität zu erhöhen, wurden diese Errungenschaften im letzten Jahrzehnt wieder teilweise rückgängig gemacht, unter tatkräftiger Mithilfe oder gleichgültigem Wegsehen der Politik. Umverteilung wird heute wieder weniger effektiv durch den Staat (von oben nach unten), als durch den Markt (von unten nach oben) betrieben.1 Die Zahlen sind von Land zu Land unterschiedlich und reflektieren spezifische lokale Konstellationen. Dennoch lassen sich Trends in ganz Westeuropa (mit Ausnahme Skandinaviens) vergleichen. Der Anteil des Lohns am Gesamteinkommen geht zurück. In Österreich ist die Lohnquote zwischen 2000 und 2006 um rund 5% gesunken, was vor allem auf »moderate« Lohnabschlüsse bei gleichzeitig rasantem Wachstum der Vermögenserträge zurückzuführen ist. Diese Situation wird noch dadurch verschärft, dass innerhalb der Lohnerträge die Ungleichheit steigt. Im untersten Fünftel wuchsen die Einkommen im gleichen Zeitraum um knapp 5% (was inflationsbereinigt ein Sinken der Realeinkommen bedeutet), während die Einkommen des obersten Fünftel um rund 16% angestiegen sind.2 Gleichzeitig verringert sich die soziale Mobilität. Kinder aus unteren Einkommsschichten gelingt es wieder schlechter, höhere Bildung zu erlangen. In Deutschland lag der Anteil der Studierenden aus mittleren oder niedrigen Schichten 1982 noch bei 57%. Im Jahr 2006 ist er auf 38% gesunken.3 Diese Ungleichheiten verschärfen sich nochmals dramatisch, wenn man den Migrationshintergrund miteinbezieht, der in Österreich bei mehr als 16% der Bevölkerung vorhanden ist, und nochmals, wenn man sich auf die großen Städte konzentriert. In Wien etwa liegt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei rund 31%.4 Die Zahl der Sozialhilfebezieher ist zwischen 2000 und 2006 landesweit um rund 33% gestiegen, etwa mehr als die Hälfte davon lebt in Wien.5 Es entsteht wieder so etwas wie eine soziale urbane Unterschicht mit großem Migrantenanteil, deren Lebensmöglichkeiten sich deutlich von denen der Mittelschicht unterscheiden und deren Aufstiegschancen strukturell begrenzt sind. Wer heute in Armut geboren wird, hat schlechtere Chancen, die Situation zu verbessern, als noch eine Generation zuvor.

Vor diesem Hintergrund findet eine zweite Fragmentierung der Städte statt, diesmal auf kulturellem Gebiet. Diese hängt allerdings weniger mit einer politischen Richtungsänderung zusammen, als mit der einer tiefgreifenden Veränderung der Kommunikationstechnologien, insbesondere dem Aufkommen des Satellitenfernsehens, der Verbreitung des Internet und dem dramatischen Sinken der Gebühren für internationale Telephongespräche (bei Skype und ähnlichen Internet-Telephonie-Angeboten können die Gebühren ganz wegfallen). Während traditionelle soziale Institutionen (etwa Kirchen, Gewerkschaften, Volksparteien) ihre Klientel verlieren, gelingt die Integration neuer Gruppierungen kaum. Ein wachsender Teil der Bevölkerung sieht sich in den zentralen Institutionen der Gesellschaft nicht mehr repräsentiert und sucht neue Wege, sich eine kulturelle Identität aufzubauen.6 Dies geschieht vor dem Hintergrund einer sehr vielfältigen Medienlandschaft, die es erlaubt, Kultur globaler Herkunft zu konsumieren, und damit die regionalen/nationalen Unterschiede etwa im Bereich des Fernsehens weitgehend aufhebt. So unterscheidet sich heute das Statellitenfernsehprogramm in Österreich nicht mehr von dem in der Türkei für diejenigen, die türkisches Fernsehen schauen möchten. Gleichzeitig ist internationale, oder auch lokale, aber geographisch weit entfernte Kultur, etwa Filme aus Indien, Afrika oder Asien, durch offizielle und inoffizielle Kanäle zugänglich wie nie zuvor. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Internet ermöglichen es den Konsumenten dieser Produkte, sich translokal miteinander zu vernetzen und über eine gemeinsame aktive Aneignung zumindest ansatzweise neue Identitätsformen zu schaffen.7 Deren Referenzpunkte sind nicht mehr primär lokal, sondern sie werden mehr oder weniger frei aus dem zur Verfügung stehenden kulturellen Universum zusammengesucht.8 Die Folge davon ist eine Abkopplung vom dem, was sich selbst zwar noch als dominante Lokalkultur versteht, diesen Status aber nicht (mehr) innehat.

Diese Bewegung hin zu kulturell-definierten Nischen findet auf allen Ebenen der Gesellschaft statt. Positiv wird das als neue Mikromärkte der Creative Industries (etwa der AnimeTown Store, der 2007 in Wien eröffnet wurde und sich ganz dem Japanischen Comic widmet9) gesehen, negativ als »Parallelgesellschaften«, die zunehmend ohne Referenz auf eben diese Lokalkultur auszukommen scheinen. In Summe ist zunächst einmal festzuhalten, dass wir eine enorme Verbreiterung der kulturellen Erfahrungen – sowohl auf der Rezeptions- wie auch auf der Produktionsseite (sofern diese noch auseinanderzuhalten sind) – erleben. Die kulturellen Lebenswelten differenzieren sich aus. Nicht nur im medialen, sondern auch in den physischen Raum. Dies beginnt bei temporären LAN-Parties, an denen Gamer ihre Maschinen in einem Raum vernetzen (und damit ein local area network einrichten), um gemeinsam, digital vermittelt, zu spielen. Es geht weiter über Geschäfte für kulturelle Nischenprodukte und -dienstleistungen und bis hin zu dauerhaften Einrichtungen mit sozialer, kultureller, kommerzieller oder religiöser Ausrichtung.

Diese Fragmentierung ist viel kleinräumiger, als sich das mit dem Begriff der »Ghettobildung« abbilden ließe und hängt auch nicht damit zusammen. Dass sich ein junges Ehepaar in einem Wiener Gemeindebau als Teil des globalen Jihad neu erfinden kann, bedeutet nicht, dass der Gemeindebau zu einem »islamistischen« Ghetto geworden wäre. Vielmehr findet dies auf der selben strukturellen Grundlage statt, wie – um ein Beispiel ganz anderer Art heranzuziehen – das Wachstum großer deutschsprachiger Anime (japanische Comics) Foren, die die Arbeiten tausender lokaler Anime-Zeichner zeigen:10 Jeder kann mehr oder weniger selbst bestimmen, welche der vielen Referenzpunkte als relevant erachtet werden, und durch eigenes Handeln dazu beitragen, auch tatsächlich Relevanz zu erlangen. Im Fall des Wiener Ablegers der »Globalen Islamischen Medienfront« (GIMF) war diese do it yourself-Strategie hochgradig erfolgreich (die »Drohvideos« gegen Deutschland und Österreich wurden im März 2007 durch offizielle Medien weit verbreitet) aber gerade durch ihr DIY Muster juristisch schwer einzuschätzen.11 Aber unzweifelhaft hatte hier eine sehr kleine Gruppe (im Falle der Wiener Angeklagten waren es nur zwei) sich eine Welt geschaffen, die nicht nur intern kohärent erscheint (das heißt, dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen vermag),12 sondern auch extern Realität anzunehmen vermochte. Damit stellen sie eine vielleicht besonders extreme und sichtbare, aber dennoch nicht gänzlich untypische Form der kulturellen Fragmentierung zeitgenössischer Lebenswelten dar. Städte waren natürlich schon immer kulturell heterogen, interne Differenzierung gehört zu ihren Wesensmerkmalen.13 Neu ist, dass diese in zunehmendem Maße nicht mehr innerhalb eines übergeordneten Bezugsrahmens geschieht (etwa der industriellen Arbeit in der Stadt der Moderne), sondern dass sich die Bezugsrahmen selbst vervielfältigen. Kulturell gesehen, gleichen Städte mehr und mehr Flickenteppichen, die aber kein Ganzes mehr ergeben, jenseits geographisch-politischer Grenzziehungen, die aber im Kontext globalisierter Komplexitäten individueller Lebensrealitäten zunehmend arbiträr erscheinen.

Während sich also die Lebenswelten differenzieren, stehen Städte in Folge von Globalisierung und (europäischer) Integration in Konkurrenz zueinander. Städte beziehen sich heute weniger auf ihr eigenes Umland (im Sinne regionaler Zentren) als auf andere Städte vergleichbarer Größe und wirtschaftlicher Struktur. Um in diesem verschärften Wettbewerb bestehen zu können, versuchen politische Entscheidungsträger, den »Standort« nicht nur durch klassische Infrastrukturinvestitionen zu fördern, auch wenn das zu Lasten von Teilen der lokalen Bevölkerung geht (etwa beim Ausbau der Flughäfen). Zusätzlich und verstärkt soll die internationale »Sichtbarkeit« der Städte erhöht werden, in dem ihre (alte oder neue) kulturelle Identität gefördert wird. Es gibt heute keine ambitionierte Stadt mehr, die nicht »Kulturstadt« sein möchte und dank Modebegriffen wie »Umwegrentabilität« (im Sinne der zusätzlichen Einnahmen, die ein neues Museum etwa für das Gastgewerbe generiert) werden die Kulturbudgets landauf landab aufgestockt. In Wien etwa stieg das Budget für den Bereich »Kultur und Wissenschaft« zwischen 2001 und 2007 um rund 43% an.14 Vorrangig investiert wird allerdings in Kultur, die die Ziele des Standortwettbewerbs und des Städtemarketing unterstützt. Diese sind – auch wenn sie intern durchaus eine gewisse Vielfalt zulassen, ja gerade zu verlangen – dennoch strukturell beschränkt. Sie sollen nur ein enges Segment der lokalen und internationalen Öffentlichkeit ansprechen, deren Präsenz als Touristen oder Wissens/Kulturarbeiter in der Stadt erwünscht wird.

Für einige der neu entstandenen kulturellen Nischen im städtischen Flickenteppich ist diese Entwicklung durchaus von Vorteil. Wer sich unter dem Stichwort »Creative Industries« gut platzieren kann, findet heute in den Städten deutlich größere Wertschätzung als noch vor zehn Jahren. Überall sind maßgeschneiderte Förderprogramme entstanden. Auch wenn Teile der Kreativindustrie von prekären Arbeitsbedingungen geprägt sind, ist der Bereich als ganzes einigermaßen privilegiert,15 nicht zuletzt dadurch, dass viele seiner Akteure über soziales/ kulturelles Kapital und guten Zugang zu den diversen Foren der Öffentlichkeit und zu politischen Institutionen verfügen.

Schwierig hingegen ist die Situation für kulturelle Akteure, die weder der tourismusfördernden Eventkultur noch der lokalen Kreativindustrie zuarbeiten. Deren Arbeit lässt sich allenfalls noch als Sozialarbeit legitimieren, was aber angesichts einer Sozialpolitik, die ihre Klientel zunehmend als Problem sieht, eine sehr limitierte Option darstellt. Es besteht also die Tendenz, dass die offizielle kulturelle Entwicklung sich von Teilen der Bevölkerung abkoppelt, die als kulturelle Akteure ignoriert werden, genau in dem Moment, in dem diese sich selbst verstärkt als kulturelle Produzenten erfahren (wollen).
Das Problem ist also nicht, dass die Kulturförderungen geschrumpft wären oder sich inhaltlich verengt hätten. In den meisten Städten ist sie heute umfangreicher und diverser als je zuvor (mit Ausnahme basisorienter Initiativen, deren demokratiepolitischer Wert heute als nicht relevant eingeschätzt wird). Das Problem liegt vielmehr darin, dass die kulturelle Fragmentierung zwar erkannt, aber nur sehr selektiv aufgenommen wird. Vor allem wird verpasst, Initiativen zu fördern, die Brücken zwischen diversen Nischen schlagen und die Erfahrungen der einen für die andere nachvollziehbar machen könnten. Anstatt die Öffnung und Verbindung der heterogenen Lebenswelten zu fördern – in ihrer Eigenständigkeit und Vielfalt, ohne Druck sich an eine immer weniger verbindliche Lokalkultur assimilieren zu müssen – werden diese sich selbst überlassen. Anstatt durchlässiger Netzwerke als Basis neuer Formen gesellschaftlicher Solidarität entstehen Inseln, die zunehmend voneinander isoliert sind und ihre eigenen kulturellen Codes und sozio-ökonomischen Grundlagen schaffen. Eine falsche Kulturpolitik fördert diese Entwicklung, obwohl es finanziell nicht sehr aufwändig wäre, hier gegenzusteuern und etwa migrantische Kultur- und Medieninitiativen stärker zu fördern. Diese würde deren spezifisches kulturelles Kapital erhöhen sowie deren Integration in gesamtgesellschaftliche Strukturen erleichtern. Gesellschaftspolitisch gesehen, wäre dies wünschenswert, weil es die kulturelle Differenzierung – die sich unabhängig von der Politik verstärkt – positiv aufnehmen könnte.

Anmerkungen

1 Dies bei gleichzeitiger Steigerung der Sozialausgaben. Diese fliessen allerdings weniger in soziale Umverteilung, sondern müssen die Kosten abfangen, die durch die Überalterung der Gesellschaft und das Steigen der Gesundheitskosten entstehen.
2 http://www.erwin-buchinger.at/cms/buchinger/attachments/ 2/3/0/CH0764/CMS1204879307811/080304_presseunterlage_enkommensverteilung.pdf
3 http://www.zeit.de/online/2008/05/bg-gerechte-stadt?15
4 http://derstandard.at/?id=3104122&sap=2&_seite=26
5 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/soziales/sozialleistungen_
auf_landesebene/sozialhilfe/020143.html
6 Castells, Manuel (2002). Das Informationszeitalter, Bd.2, Die Macht der Identität. Leske + Budrich Verlag
7 Jenkins, Henry (2006). Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York, London, New York University Press
8 Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth (2004). Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M. Suhrkamp
9 http://www.animetown.at
10 Das Forum Animexx.de hostet aktuell über 750.000 Bilder von knapp 50.000 Zeichnern.
11 Die Urteil des ersten Prozesses vom 12.03.2008 wurden wegen ungenauer Fragestellung vom Höchstgericht (teilweise wieder aufgehoben). Der Prozess muss wiederholt werden. http://derstandard.at/?url=/ ?id=1219725224893
12 Die Frau, Mona S., erklärte die Sinnhaftigkeit ihres Tun in einer langen »Stellungnahme«, die online verbreitet wurde. http://abuusamaalgharib.wordpress.com/2008/11/16/eine-allgemeine-stellungnahme-vonmona-s/
13 Mumford, Lewis (1979[1968]). Die Stadt. Geschichte und Ausblick. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.
14 http://www.vienna.at/news/om:vienna:kultur/artikel/wiener-kulturbud-get-waechst-2009-auf-2306-mio-euro/cn/news-20081125-01502611
15 Eichmann, Hubert, Schiffbänker, Helene (Hrsg.): Nachhaltige Arbeit in der Wiener Kreativwirtschaft? (Münster-Hamburg-Berlin-Wien-London-Zürich 2008)

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