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Kreative Milieus. Vorschlag für eine neue Perspektive auf die Netzkulturen der frühen 1990er Jahre am Beispiel Wiens

Die Grundprämisse dieses Beitrags ist, dass in der frühen Phase der Einführung des Internet Anfang bis Mitte der 1990er Jahre Potenziale für kritische und innovative Netzkulturen entwickelt wurden, die eine Wiederbegutachtung verdienen. Diese Potenziale wurden jedoch sehr schnell durch andere Entwicklungen überlagert und in der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet; zunächst durch die Verbindung von New Economy und Neoliberalismus, dann – nach dem Platzen der Dot-Com-Blase – durch eine verfrühte Rede vom „Scheitern“ der netzkulturellen Ansätze; und schließlich durch deren „verkehrte Wiederkehr“ im Web 2.0 der 2000er Jahre – „verkehrt“ in dem Sinn, dass die ursprünglichen Motivationen hinter diesen nichtkommerziellen, kritischen Kulturtechniken schlichtweg ignoriert und verdrängt wurden, während einige ihrer innovativen Ansätze zur Basis einer neuen kommerziellen Massenkultur wurden.

Die Grundprämisse dieses Beitrags ist, dass in der frühen Phase der Einführung des Internet Anfang bis Mitte der 1990er Jahre Potenziale für kritische und innovative Netzkulturen entwickelt wurden, die eine Wiederbegutachtung verdienen. Diese Potenziale wurden jedoch sehr schnell durch andere Entwicklungen überlagert und in der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet; zunächst durch die Verbindung von New Economy und Neoliberalismus, dann – nach dem Platzen der Dot-Com-Blase – durch eine verfrühte Rede vom „Scheitern“ der netzkulturellen Ansätze; und schließlich durch deren „verkehrte Wiederkehr“ im Web 2.0 der 2000er Jahre – „verkehrt“ in dem Sinn, dass die ursprünglichen Motivationen hinter diesen nichtkommerziellen, kritischen Kulturtechniken schlichtweg ignoriert und verdrängt wurden, während einige ihrer innovativen Ansätze zur Basis einer neuen kommerziellen Massenkultur wurden. Aufgrund dieser Vorgänge ist eine Freilegung der Potenziale der frühen Netzkultur nur durch die Entwicklung verbesserter methodologischer Ansätze für ihr Studium möglich.

Die Informationsgesellschaft war ein Mythos, lange bevor sie Wirklichkeit wurde. Mythen sind Konstrukte, die wir erfinden, um uns das Unerklärliche erklärbar zu machen (Woodward 1980, xiv). Der Mythos impliziert ein bestimmtes Geschichtsverständnis, dessen Gestalt der Mythos repliziert. In modernen kapitalistischen Gesellschaften kommt hinzu, dass erstens Mythen bewusst erzeugt werden, um die Aufmerksamkeit und Energien zu fokussieren, und dass zweitens dem Denken oder der Theorieproduktion selbst ein mythischer Charakter anhaftet. Der Name „Informationsgesellschaft“ ist schon ein solcher Fetischbegriff und dessen zen- traler Terminus „Information“ ein Produkt der Verdinglichungstendenz in kapitalistischen Gesellschaften (siehe Sohn-Rethel 1972). Der Begriff „Informationsgesellschaft“ enthält ein ganz spezifisches Geschichtsbild. Wie Barbrook in Imaginary Futures (2007) herausgearbeitet hat, wurde der Aufstieg der Informationsgesellschaft als unaufhaltsame geschichtliche Notwendigkeit dargestellt. Die Zukunft der Informationsgesellschaft würde zugleich auch eine postindustrielle Gesellschaft sein, verkündete einer ihrer wichtigsten Propheten, Daniel Bell (1973). In dieser Transformation würde sich der modus operandi der Geschichte selbst ändern. Der Klassenantagonismus zwischen Arbeit und Kapital würde dauerhaft zugunsten des Kapitals gelöst werden, und die neuen Medien würden den Klassenkampf als treibende Kraft der Geschichtsentwicklung ersetzen. Die Ereignisse von 1989 schienen dieses (extrem ideologische) Geschichtsbild (vorübergehend) zu bestätigen.

Ein methodologisch robuster Ansatz zum Studium der Netzkultur muss einerseits diesen Mythen Widerstand bieten und darf andererseits nicht selbst zur Mythenbildung beitragen. Der Hauptteil dieses Beitrags ist dem Zusammenhang zwischen technologischen Systemen und kreativen Milieus gewidmet. Mein Vorschlag lautet, zwischen „Netzkunst“ und dem „künstlerischen Umgang mit Telekommunikationstechnologien“ kategorisch zu unterscheiden. KünstlerInnen werden dann als eine von mehreren „communities of practitioners“ sichtbar, die zum Werden der Netzkultur beigetragen haben, ohne ihren Beitrag zu privilegieren, wie das z. B. das Projekt „Netzpioniere“ (http://www.netzpioniere.at/) tut. Es ist zu vermeiden, das Web durch den Blickwinkel des Warenfetischismus zu sehen und den Mythos Informationszeitalter noch mit einem weiteren Mythos, dem der Kunst, anzureichern.

In einer ersten Stufe wären daher bestimmte meta-systemische Ebenen zu berücksichtigen. Zu fragen wäre: Wie entstehen neue Technologien, von wem werden sie entwickelt und zu welchem Zweck? Die Frage der Hegemonie und der geostrategischen Konflikte und Konstellationen kann hier nicht ausgeblendet werden. Ein weiterer zentraler Faktor für die Entwicklung neuer Technologien ist die Ökonomie. Diese kann nicht nur als externer Faktor gelten, sondern als intrinsisch wirkende, treibende Kraft, als eine Marx’sche „motor force of history“. Theorien zum technoökonomischen Paradigmenwechsel von Freemand und Soete (1997) und Perez (2002) sind vielversprechend und gewinnen durch Einbeziehung zeitgenössischer Science-Studies-Ansätze zusätzliche Dimensionen. Aus dem Feld der Science Studies empfehlen sich insbesondere Theorien über technologische Systeme (Hughes 1987) und die Actor-Network-Theorie (Callon 1987). Diese theoretischen Ansätze verstehen Technologien nicht einfach als Dinge, sondern als technologische Systeme, deren menschliche HandlungsträgerInnen durch den systemischen Charakter nicht vollständig determiniert sind. Es bleibt also ein Spielraum für „agency“, für selbstbestimmtes menschliches Handeln.

Die Science Studies können uns aber wenig darüber sagen, woher diese Motivationen handelnder Subjekte stammen. Sowohl der Ansatz von Hughes als auch die Actor Network Theory geraten leicht in Gefahr, allzu deskriptiv und damit pragmatisch-konservativ zu werden. Die Science Studies sagen uns nicht, wie diese politischen Subjektivitäten geformt werden, wie Techno-Kultur entsteht. Es wäre schön, wenn es hierzu einen Ansatz gäbe, den man heranziehen könnte, aber dieser existiert leider kaum. Es bleibt hier nur festzustellen, dass es bestimmte Personen und Gruppen gibt, die eine Vorreiterrolle einnehmen. In den 1990er Jahren wurde daraus allerdings ein neuer Mythos geschaffen. Im Rückgriff auf Schumpeters „kreative Zerstörung“ wurden RisikokapitalistInnen und InformatikerInnen zu AgentInnen des Wandels stilisiert und damit der neoliberale Abbau des Sozialsystems legitimiert. Es ist also wichtig festzustellen, dass diese „Avantgarden“ nicht unbedingt nur Eliten sein müssen, sondern dass auch subalterne Gruppen durch kollektive Handlungsformen „Agenten des Wandels“ sein können. Und es muss gerade dem Mythos der Kreativität und der Innovation entgegengearbeitet werden, mit dem bestimmte Gesellschaftsgruppen ausgestattet wurden.

In Österreich gibt es eine „Tradition“, dass manchmal progressive Veränderungen „top-down“ erfolgen. So etwa erfolgte die Gründung der Ars Electronica 1979 in Linz durch ein Zusammenspiel von ORF und lokalen PolitikerInnen. Der „Ars“ gelang es in der Anfangsphase, ein Konzept der „Kultur für Alle“ mit elitären Avantgarde-Ideen künstlerischer KybernetikerInnen der ersten Stunde unter dem Dach eines Festivals zusammenzubringen. Das bedeutet, dass hier eine „imaginäre Zukunft“ im kleinen Maßstab gebaut wurde, wobei der Kunst die Rolle einer Geburtshelferin für die digitale Zukunft der ehemaligen Stahlstadt zukam.

Der Moment der Netzkultur unter spezifisch österreichischen Bedingungen kam zu einer Zeit Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als das gesetzlich abgesicherte Monopol des staatlichen Rundfunks ungebrochen war, sich aber teilweise unter Mithilfe desselben Rundfunks durch Ars Electronica und andere Initiativen wie z. B. Kunstradio ein institutioneller Kontext für den künstlerischen Umgang mit neuen Technologien entwickelte. Teilweise verbunden damit, teilweise unabhängig davon, ent stand eine wachsende Szene von Personen mit einem hohen Grad an „media literacy“ in einem Land, in dem die Medien Radio und Fernsehen staatlich kontrolliert wurden. Gerade diese scherzhaft als „albanisch“ bezeichnete Situation stimulierte das Entstehen von utopistisch-avantgardistischen Ideen von Mediengebrauch, bei denen Dezentralisierung und Partizipation im Vordergrund standen.

Angefangen mit den Art-and-Telecommunication-Projekten von Bob Adrian seit Beginn der 1980er Jahre, die vergleichsweise gut dokumentiert sind, wären Fallstudien anzustellen über den künstlerischen Umgang mit Netzwerken von KünstlerInnen und Gruppen wie Franz Xaver, Konrad Becker, Radio Subcom, Ponton/Van Gogh TV, Stadtwerkstatt, Zero (Bob Adrian, Gerfried Stocker), RAM, You Never Know, Hilus, The Thing Wien und vielen anderen.

Bemerkenswert ist z. B. der Zugang Franz Xavers, der bereits seit Ende der 1970er Jahre versuchte, telekommunikativ vernetzte Skulpturen herzustellen. Dieser Ansatz kam zunächst aus dem Luminokinetismus und einem erweiterten, medienkünstlerischen Skulpturbegriff. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte Radio Subcom (an dem der Autor dieses Beitrags beteiligt war), das „physisches Networking“ durch mobiles Arbeiten mit einem zum Studio ausgebautem Bus betrieb und ein mobiles Telekommunikationsnetz entwickelte. Auf technischer Ebene bedeutete das, mobile Kleincomputer mittels Akustikkoppler von jeder Telefonzelle mit einer Mailbox verbinden zu können. Subcom definierte Kunst als Kommunikation und fasste die Vernetzung als eigentlichen Inhalt der Arbeit auf, ohne jegliche Fetischisierung von Objekten als Kunstwerken. Subcom propagierte die Verwendung von „Low-tech“ als bewusste Strategie gegen den High-Tech-Fetischismus mancher „PionierInnen“ der Medienkunst.

Den Gegenpol zu diesen Ansätzen bildeten Projekte wie Roy Ascotts „Gesamtdatenwerk“ Aspects of Gaia (1989), welches die Informations gesellschaft als Utopie bewarb, um die Widersprüche des Industriezeitalters mittels des Mythos Information und der Kommunikation in Netzwerken zu überwinden. Verbreitet war und ist in der Medienkunst die Begeisterung über die ästhetisch-künstlerischen Möglichkeiten der neuen Technologien, deren Herkunft aus dem militärisch-industriellen Komplex ebenso wie ihre Rolle im neoliberalen Umbau der Gesellschaft gerne übersehen werden.

Anfang der 1990er Jahre spitzte sich die Situation zwischen Österreichs „Medienstalinismus“ – also der unzeitgemäßen Fortdauer von Rundfunk- und Postmonopol – und der Existenz einer kritischen, auf emanzipatorischen Mediengebrauch konzentrierten Szene zu. Aus der Initiative Boiler, ursprünglich entstanden zur Rettung der von der Schließung bedrohten Radiosendung Musicbox, bis dato einziges elektronisches „Organ“ einer kritischen Jugendkultur, wenn auch Teil des Staatsfunks, entwickelte sich bald eine Radiopiratenszene (Subcom 1990). Diese Bewegung, die mit mobilen Kleinsendern arbeitete, ist insofern relevant, als sie die Möglichkeiten des Radios als Community-Medium demonstrierte und damit als Praxis dem Netz näherstand als dem traditionellen Rundfunk. Außerdem beteiligten sich AkteurInnen aus diesem Umfeld später intensiv am Projekt TIV, das versuchte, eine Synthese aus Community-Kabel- TV und Web-Projekt aufzubauen.

Mit der Verbreitung des Web und der Entstehung von Linux um das Jahr 1994/95 herum schienen sich viele Versprechungen der Medienkunst der 1980er Jahre schlagartig einzulösen. Partizipation und Dezentralität waren plötzlich „gegeben“, insofern aber, und das ist das Paradoxon, bedeutete das Web für einige, etwa Franz Xaver vom Kunstlabor, (vorübergehend) das Ende der künstlerischen Praxis. Andere hatten kein Problem, als sogenannte NetzkünstlerInnen aufzutreten, auch wenn sie damit, wissentlich oder nicht, das gesamte Netz als ein Duchamp’sches Readymade verwendeten. Die Netzkunst der 1990er Jahre erscheint in vielerlei Hinsicht wie eine Spielart des Warenfetischismus oder bestenfalls ein ironischer Kommentar auf das Web, d. h. auf die Arbeit der anderen.

Um die kritischen Potenziale der Netzkultur besser zu verstehen, soll an dieser Stelle der Begriff der „strategic research site“ eingeführt werden (Bijker, Hughes, and Pinch 1987). Diese „sites“ sind Orte, die nicht unbedingt „örtlich“ aufzufassen sind, es kann sich auch um bestimmte Personenkreise handeln, oder bestimmte Typen von Institutionen, jedenfalls aber besonders neuralgische Punkte, deren Erforschung Spezifika techno-sozialer Dynamiken offenlegen, die ansonsten verschlossen bleiben würden. Ein solcher Ort war Mitte der 1990er Jahre das Büro von Oskar Obereder. Der Student der Klasse für visuelle Mediengestaltung, der sich zur gleichen Zeit auch im Kunstlabor engagierte, ersann das Projekt 1000 Meisterwerke – der Name ist dem Titel einer lange Jahre laufenden Kurzsendung über berühmte Kunstwerke entlehnt. Zu untersuchen wäre, wie aus diesem Projekt zum Vertrieb von Multiples von MedienkünstlerInnen schließlich über mehrere Zwischenstufen der Silverserver, später Sil.at, wurde, ein kommerzieller Internetprovider.

Die Erforschung strategischer „research sites“ wie des frühen Silverservers, des Kunstlabors oder von Public Netbase und deren Umfelder, aber auch die divergierenden Spezifika des künstlerischen Umgangs mit Netzwerken böten die Chance, die Potenziale der frühen Netzkultur sichtbar zu machen. Anfang bis Mitte der 1990er Jahre entstanden an verschiedenen Plätzen in Europa solche Kreative Millieus, an denen es einen Austausch zwischen Hackerkulturen und KünstlerInnen gab, wo sich technologisches, künstlerisch-randständiges und häufig auch sozial antagonistisches Potenzial vermischte. Zu diesen Orten zählte außerhalb Österreichs Ljudmilja (Ljubljana), E-Lab (Riga) und Backspace (London), um nur einige zu nennen. Viele dieser überwiegend kleinen oder relativ kleinen Institutionen, die „von unten“, d. h. selbstorganisiert entstanden sind, betrieben Web-Server und andere Internetdienste und versorgten ihre Mitglieder mit Bandbreite, boten aber auch (virtuelle) Diskurs- und (reale) Meetingräume. Ich schlage vor, unter dem Gesichtspunkt der „strategic research sites“ diesen Initiativen und ihrer internationalen Vernetzung fundierte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Als neuralgische Punkte, Knoten von Menschen, Netzwerken, Ideen, Energien und Widerständen liefern sie Modelle für Alternativen zu gescheiterten neoliberalen Konzepten von Innovation. Nicht die Entwicklung von Technologien darf in deren Zentrum stehen, sondern die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten und kulturellen Sensibilitäten der Menschen.


 

LITERATUR

Barbrook, Richard. 2007. Imaginary futures : from thinking machines to the global village. London: Pluto.
Bell, Daniel. 1973. The coming of post-industrial society. New York: Basic Books.
Bijker, Wiebe E., Thomas Parke Hughes, and Trevor J. Pinch. 1987. The Social construction of technological systems: new directions in the sociology and history of technology. MIT Press.
Callon, Michel. 1987. Society in the Making: the Study of Technology as a Tool for Sociological Analysis. In The Social construction of technological systems: new directions in the sociology and history of technology, 83-106. MIT Press. Freeman, Christopher, and Luc Soete. 1997. The economics of industrial innovation. MIT Press.
Hughes, Thomas Parke. 1987. The Evolution of Large Technological Systems. In The Social construction of technological systems: new directions in the sociology and history of technology, 51-82. MIT Press.
Perez, Carlota. 2002. Technological revolutions and financial capital: the dynamics of bubbles and golden ages. Cheltenham, UK; Northampton, MA, USA: Department for Culture, Media and Sport, Department for Business, Innovation and Skills. Sohn-Rethel, Alfred. 1972. Geistige und körperliche Arbeit: zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. [1. Aufl. dieser revidierten und erg. Ausg.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Subcom. 1990. Boiler (Zeitschrift, einmalige Ausgabe). Subcom und Boiler (Eigenverlag).
Weber, Jutta. 2001. Umkämpfte Bedeutungen: Natur im Zeitalter der Technoscience. Campus.
Woodward, Kathleen, ed. 1980. The Myths of information: technology and postindustrial culture. Milwaukee and Madison: University of Wisconsin and Coda Press.

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