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Geschichtsvergessenheit. Elektronische Musik, Netzkulturen und Protest

Während Medien wie das Internet oder elektronische Musik oft aufgrund ihrer technologie-utopischen Dimension als ahistorische Phänomene gedacht werden, täte man gut daran, ihre Geschichte zu kontextualisieren. Denn deren Vergangenheit könnte uns einige Auskünfte über die Zukunft geben.

Während Medien wie das Internet oder elektronische Musik oft aufgrund ihrer technologie-utopischen Dimension als ahistorische Phänomene gedacht werden, täte man gut daran, ihre Geschichte zu kontextualisieren. Denn deren Vergangenheit könnte uns einige Auskünfte über die Zukunft geben.

„Facebook“ steht handgeschrieben auf einem Pappschild, das ein mittelalter Mann Anfang Februar 2011 auf Kairos Tahrir Platz in die Kamera des NBC-Korrespondenten Richard Engel hält, umrahmt von arabischen Schriftzeichen, die der ägyptischen Jugend danken.1 Spätestens seit den Aufständen in Nordafrika, die Anfang 2011 mit von allen unerwarteter Wucht losbrachen, gilt als etablierte Tatsache, dass Internet und mobile Telekommunikation nicht nur perfekt orchestrierte Wahlkampagnen wie die von Barack Obama 2008 unterstützen können, sondern dass sie auch dazu geeignet sind, dezentrale politsche Proteste zu bündeln und zu befeuern. Via sozialen Networks wie dem omnipräsenten Facebook oder dem Micro-Blogging-Service Twitter – beide als eher sinnentleerte Zeitkiller und Selbstvernetzungs- bzw. Selbstpromotions-Tools westlicher Mittelstands-Kids gestartet – konnten Informationen sowohl innerhalb der Protestbewegung breit gestreut, als auch an die globale Öffentlichkeit getragen werden. Fernsehsender griffen routinemäßig auf wacklige Filmaufnahmen von Handykameras zurück oder zeigten Exil-AraberInnen beim verzweifelten Chat-Versuch mit Angehörigen, Zeitungen holten Informationen von BloggerInnen ein oder stützten ihre Recherche mangels Alternativen auf „das Internet“. Alles neu also? Wohl kaum, wenn man sich die  „machtkritischen Aktionsformen“ der 1990er Jahre vergegenwärtigt, von denen der „Digital Zapatismo“ der EZLN (ab 1994) nur ein Beispiel war (vgl. Texte zur Kunst: 75-82).

Kurz vor dem Ausbruch der arabischen Aufstände hatte das deutsche Magazin für elektronische Lebensaspekte, De:Bug, unter dem – wieder einmal – an die Anarcha-Feministin Emma Goldman angelehnten Titel „If I can dance to it, it’s my revolution“ die Parole ausgegeben, Demo-Raven sei jetzt in. Unter den Eindrücken der Bürgerproteste rund um Stadtentwicklungspläne wie Stuttgart 21 oder Mediaspree in Berlin heißt es in der Einleitung des Specials im November 2010: „Demonstrieren ist voll en vogue, die Form des Protestes hat sich dabei deutlich verändert und gibt sich bevorzugt zeitgemäß: Prosumenten bringen 2.0-Strategien wie Smart- und Flashmobs, Viral, Guerilla und Social Networks in Stellung, um geäußertes Unbehagen modernistischer und besser zu gestalten als die alten Protestsäcke mit ihren Latschdemos.“ (De:Bug: 20)

In Unkenntnis der kurze Zeit später losbrechenden internationalen Uprisings lässt sich weiter lesen, „Demonstrieren [sei] heute […] mit fortschreitender Globalisierung zu einem immer lokaleren Sujet geworden. Es sind die vermeintlichen Missstände vor der Haustür, die bewegen. Pflastersteine und Molotow-Cocktails sind in diesem Kontext eher verpönt, dafür bedienen sich viele der ,neuen‘ Protestzugformen ausgiebig der Techno-Bassdrum mit ihrem großen Motivierungs-, Einigungs- aber auch Missverständnispotential. Dass Köpfe im gleichen Takt wippen, vereint sie noch lange nicht in solidarischer Entschlossenheit – aber wen kümmert’s, wenn die Demo-Party geil ist? Also geht die Geschichte mit einem zynischen Treppenwitz weiter: Während die Loveparade, die ja einmal als Demonstration begann, aufgrund kapitaler und kapitalistischer Fehler im Crowd Management ihr jähes Ende fand, haben politisierte Demo-Paraden ihre Rituale und Kulturtechniken übernommen. Groß etwas zu adaptieren gab es dabei scheinbar nicht, obwohl es nicht mehr um Friede-Freude- Eierkuchen, sondern um Empörung gehen soll.“ (De:Bug: 21)

Im darauf folgenden Artikel „Empörung. Mit Techno gegen Techno“ von Laura Ewert räumt die Autorin zwar ein, dass es bei Techno dereinst in den 1990er Jahren durchaus auch irgendwie um politische Artikulation gegangen sei: „Techno wurde als Ursprung dieser neuen informellen Gruppen verstanden und damit setzte sich auch ein neues Verständnis von politischer Teilhabe und politischen Identitäten durch. Illegale wie offizielle Partys hatten immer auch mit der Einnahme von Räumen zu tun, mit dem Gefühl der Rückeroberung der Welt.“ (De:Bug: 22) Doch ihr darauf folgender Befund, warum Rhythmus-basierte elektronische Musik auf diese Weise zur Artikulation von Protest eingesetzt werde, bestätigt nur wieder die dumpfesten Klischees, die seit dem Beginn von Rave-Kultur gegen diese in Stellung gebracht wurden: „Boom-Tschakk, dum-dumdum. Schmuse-Pop hätte sich als verbindlicher Soundtrack vermutlich eher nicht durchsetzen können. Techno ist sinnleere Musik, die man mit Sinn füllen kann, Techno ist Funktionsmusik, der Vier-Viertel-Takt ist der kleinste gemeinsame Nenner. Student, Ergotherapeutin, Nachwuchs- Starfotograf, sie alle tanzen mittlerweile gleich. The Kids want Techno.“ (De:Bug: 23)

Da ist im kollektiven Bewusstsein wohl nicht viel passiert seit der Analyse von Sarah Thornton, die schon 1995 in ihrer Untersuchung zum subkulturellen Kapital von Clubkulturen eingehend feststellte: „Dance cultures have long been seen to epitomize mass culture at its worst. Dance music has been considered to be standardized, mindless and banal, while dancers have been regarded as narcotized, conformist and easily manipulated.“ (Thornton 1995: 1) Das evoziert wieder die wohlbekannte Schrift „Zum Jazz“ von Theodor Adorno, der im ekstatischen Tanz zur Jazzmusik die „Bereitschaft zu blindem Parieren“ und einen „kollektiven Marschschritt“ (Adorno 1976: 127) zu entdecken meinte.

Diese Geschichtsvergessenheit verblüfft, da mit den österreichischen Protesten gegen die rechtspopulistische Regierung aus ÖVP und FPÖ im Jahr 2000 – ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt also, zu dem die Dotcom- Blase geräuschvoll platzte und so einige Jungmillionärsträume unter sich begrub –, für die sich Netz- und ClubkulturaktivistInnen zu gemeinsamen öffentlichen Aktionen zusammenschlossen, eindrucksvoll bewiesen worden war, dass das Klischee von der durch und durch apolitischen Technokultur eben nur das war – ein Klischee.

Der kollektive Schock, den die Angelobung der FPÖVP-Regierung auslöste, ließ damals eine ganze, bis dato eher heterogene Community in fiebrigem Aktionismus sprießen. Viel war zu dieser Zeit rund um die im Netz und auf der Straße präsenten Aktivitäten von Electronic Resistance, volkstanz. net, free re:public u. a. unter dem heiß debattierten Etikett „Soundpolitisierung“ zu sehen und zu lesen – von samstäglichen Volkstanz-Paraden über Diskussionsveranstaltungen und Filmabende bis zur Theoriebildung. Die vielbeklagte „angeblich unpolitische Wiener Musikszene“ trat angriffslustig gegen „Rassismus, Sexismus und Sozialabbau“ auf den Plan. Unter dem Motto „Die Kunst der Stunde ist Widerstand“, von dem sich ein Gros der Kulturschaffenden mitreißen ließ, war es vor allem die elektronische Musikszene, die sich mit lautstarkem Protest hervor tat. Während der Faktor „Spaß“ in Verbindung mit Techno, wie bereits beschrieben, als Negativmarker für dumpfe, apolitische Loveparade-„Gute Laune“ rezipiert wurde, verhielt es sich hier anders. Trotz der als deprimierend und ausweglos empfundenen politischen Situation war es genau jener „Fun“ an und mit der neuen Politisierung durch die und mit der Musik, der ganz im Sinne afroamerikanischer House-Dancefloors die (dort: sexuell-ethnischen, hier: politischen) Minderheiten bzw. DissidentInnen galvanisierte und für ein gemeinsames Ziel mobilisierte.

Man suchte nach innovativen Protestformen und fand sie in den Volkstanz-Radiodemos sowie Live-Übertragungen von Auseinandersetzungen mit der Polizei via dem freien Radio Orange 94.0. Man besetzte Plätze und blockierte Straßen, organisierte Rundfahrten durch ganz Wien und scheute auch keine stundenlangen Fußmärsche im Schneetreiben bis zur weit außerhalb gelegenen ORF-Zentrale am Küniglberg. Ebenso wenig scheute man die dafür notwendigen inhaltlichen Auseinandersetzungen, aufreibenden Organisationsarbeiten und basisdemokratischen Plena, die für nicht wenige der erste nachhaltige Kontakt mit solchen selbstorganisierten Strukturen waren.

Der Wiener Philosoph Oliver Marchart, der damals den Begriff der Soundpolitisierung als „reale Politisierung“ durch eine „Ankoppelung an eine real existierende politische Bewegung“ maßgeblich prägte, subsumiert rückblickend in seiner Schrift „Die politische Differenz“ diese innovativen Protestformen gegen Schwarz-Blau, von denen die mit Techno unterlegten öffentlichen Protestparaden ein wichtiger Teil waren, den neuen Politikformen neuer sozialer Bewegungen, „die auf Basis mobiler und wechselnder Zusammenschlüsse agieren“ (Marchart 2010: 294). Diesen werde häufig der „Politikstatus“ abgesprochen, da man ihnen vorhalte, „sie seien zu ineffizient, weil sie nichts bewirkten, zu klein, weil sie nicht über die Wahrnehmungsschwelle der Massenmedien träten, oder zu korrumpiert, weil sie mit einem Bein in den Institutionen des Staates stünden oder mit ,dem Feind‘ Kompromisse eingingen“ (Marchart 2010: 293).

Dagegen hält Marchart fest, dass sich der „Erfolg ihrer politischen Mobilisierungsarbeit nicht allein an der Zahl der Demonstrationsteilnehmer oder der Breite massenmedialer Berichterstattung messen“ ließe, sondern dass sie „gänzlich andere Formen von Öffentlichkeit suchen und schaffen. Bei all dem handelt es sich um Formen politischer Aktion, die – ganz so wie traditionellere Formen: Mahnwachen, Bürgerversammlungen etc. – zumeist ,im Kleinen‘ stattfinden, denen aber Probleme der Größenordnung ohnehin kein zentrales Anliegen sind. Sie unterfliegen gewissermaßen den Radar traditioneller Perspektiven auf Politik.“ (Marchart 2010: 294) Ganz unabhängig vom Ausmaß der Protestaktionen selbst oder von ihrer medialen Wahrnehmung seien sie exemplarisch als „Symptom eines verdrängten Antagonismus“ insoweit effektiv gewesen, als sie darauf hingewiesen hätten, dass etwas „nicht stimme“ (Marchart 2010: 297).

Soll heißen: Das utopische Potenzial der politischen Techno-Community, das sich in diesem Fall mit dem utopischen Potenzial einer politischen Internet-Community verband, die zu diesem Zeitpunkt noch vor dem Kontroll-Diktat der dislozierten Partizipationsgesellschaft aus der Daueradressierung sozialer Netzwerke und anderer überwachender „Mitmach“-Angebote stand, ist nicht verpufft. Auch wenn die kritische Masse bzw. Größe für die Aufnahme in eine offizielle Geschichtsschreibung nicht erreicht wurde, so ist doch das Gegenteil der Fall, wie Marchart über die Anti-FPÖVP-Aktivitäten von 2000 und danach resümierend festhält: „Sie erfüllten die für Protestbewegungen typische Funktion der Exemplarität. Und für die Wirkung einer politischen Aktion als Exempel ist das numerische Kriterium der ,Größe‘ unmaßgeblich“ (ibd.).

 

LITERATUR

Adorno, Theodor W. (1976): Zeitlose Mode. Zum Jazz. In: Ders. (1976): Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp. De:Bug Nr. 147, November 2010.
Marchart, Oliver (2010): Die politische Differenz. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Texte zur Kunst Nr. 32, Dezember 1998. „Medien“. Thornton, Sarah (1995): Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital. Cambridge: Polity Press.

 

 

1 | http://www.huffingtonpost.com/2011/02/04/egypt-protesters-thank-youfacebook_ n_818745.html (Zuletzt besucht: 
  10.05.2011).

 

Content type
text
Projects Vergessene Zukunft - Radikale Netzkulturen in Europa
World-Information Institute
Date 2012
Location Vienna

Tags

Dotcom-Blase Social Networks Flashmobs Guerilla Kairo Laura Ewert Emma Goldman Sarah Thornton Oliver Marchart
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