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nettime - Fortsetzung folgt...

nettime ist eine elektronische Mailingliste und somit ein System, das es seinen Mitgliedern ermöglicht, auf Text beschränkte e-Mails an alle anderen AbonnentInnen zu versenden. Vor der Entstehung des grafischen Web zählten Mailinglisten zu den wichtigsten Mitteln, um mit möglichst vielen Menschen in einer strukturierten Umgebung zu kommunizieren.

nettime ist eine elektronische Mailingliste und somit ein System, das es seinen Mitgliedern ermöglicht, auf Text beschränkte e-Mails an alle anderen AbonnentInnen zu versenden. Vor der Entstehung des grafischen Web zählten Mailinglisten zu den wichtigsten Mitteln, um mit möglichst vielen Menschen in einer strukturierten Umgebung zu kommunizieren.

Das mag in einer Welt, in der unzählige webbasierte Dienste und „Social Networking“-Seiten komplexe, detaillierte und medienintensive Interaktionen zwischen großen Bevölkerungsgruppen ermöglichen, fast primitiv anmuten, aber in vielerlei Hinsicht erfinden diese neuen Services die den Mailinglisten zugrundeliegenden Services nur neu – manchmal besser, manchmal schlechter. Anders als neuere Services stellten Mailinglisten in ihren Anfängen absolut minimale Anforderungen an Bandbreite, Hardware und Software: All jene, die Zugang zu e-Mail hatten (vielleicht auch nur e-Mail), konnten mitmachen. Demzufolge fungierten Mailinglisten manchmal auch als Schleichwege für Menschen mit ähnlichen Interessen, um alle Arten von Einschränkungen zu umgehen – zum Beispiel durch unsichere Internetzugänge (aus Gründen der Geografie oder der Politik) oder durch „Walled Garden“-Internetangebote, die schon früh versuchten, Netzwerkaktivitäten einzufangen.

„HEROISCHE ZEITEN“

Da Interessierte die jeweilige Mailingliste zuerst abonnieren mussten, um mitmachen zu können, brauchten sie einen triftigen Grund dazu. Üblicherweise war dies ein klar definiertes Thema (z. B. „KatzenliebhaberInnen“). Aber manchmal genügte auch eine Gruppe von Leuten, die in der gleichen Region lebten oder sich beruflich kannten (z. B. „Nordamerikanische NetzbetreiberInnen“). Die Idee von Mailinglisten mit offenen Themen war damals noch paradox. Und trotzdem wollte nettime diesem Anspruch gerecht werden, wie aus der Selbstbeschreibung der Mailingliste ersichtlich wird:

„<nettime> is not just a mailing list but an effort to formulate an international, networked discourse that neither promotes a dominant euphoria (to sell products) nor continues the cynical pessimism, spread by journalists and intellectuals in the ‚old‘ media who generalize about ‚new‘ media with no clear understanding of their communication aspects. we have produced, and will continue to produce books, readers, and web sites in various languages so an ‚immanent‘ net critique will circulate both on- and offline.“1

Der englische Wikipedia-Eintrag zu nettime erzählt pflichtgemäß – so wie die meisten anderen Erwähnungen –, dass die „Internet-Mailing-Liste“ 1995 von Geert Lovink und Pit Schultz gegründet wurde. Der Eintrag zählt dann „namhafte“ SubskribentInnen, wichtige Ereignisse und Print-Publikationen auf. Anders als die prosaische Beschreibung von Felix Stalder und Jesse Hirsh in einem Artikel aus dem Jahr 2002, der in First Monday erschienen ist2 und als Basis eines neuen, besseren Wikipedia-Eintrags dienen könnte, ist der offizielle Eintrag literarisch der Hagiografie näher als der Enzyklopädie: eine Übersicht heroischer Taten, die durch den Nebel der Zeit verschleiert werden. Die letzten beiden Punkte im Eintrag entstammen dem nettime-Reader „ReadMe! ASCII Culture and the Revenge of Knowledge“ aus dem Jahr 1999 sowie der Veröffentlichung NKP6 aus dem Jahr 2001. Auch wenn die „heroischen Zeiten“ vorbei sein mögen, ist die Mailingliste nach wie vor sehr aktiv und keinesfalls eingeschlafen – wie das der Wikipedia-Eintrag glauben macht.

nettime war in der Frühzeit des Internet ein Denkmal (oder das, was in einer vernetzten Welt dafür gehalten wird) für Geert Lovinks Projekt, vielversprechende „Spinner“ aus der ganzen Welt miteinander zu vernetzen. Dafür – und sein Projekt umfasste wesentlich mehr als nettime – gebührt ihm tatsächlich Lob. Aber eine kommunikative Umgebung wie eine Mailingliste ist alles andere als still und monumental: Falls jemandem Lorbeeren zustehen, dann sind es vor allem die tausenden Beitragenden und Mitlesenden der Liste, die zur Gestaltung von mehr als 15 Jahren nettime beigetragen haben. Der Umstand, dass die „heroischen“ Geschichten von nettime fast nie auf diese Tatsache eingehen, taucht die Erzählungen in ein anderes Licht: Sie sind polemisch. Dies wird vor allem dann klar, wenn man sich das Archiv der Liste ansieht, dessen Inhalt und Form dem Ausspruch des Science Fiction-Autors Bruce Sterling durchaus gerecht wird, der nettime einmal als „die weltumfassendste Liste der Welt“ bezeichnete.3 Und während es heute ein Leichtes ist, offene Archive für selbstverständlich zu halten, hat die Tatsache, dass die Liste von Beginn an öffentlich zugänglich war – und noch dazu mit stabilen URLs, was für damalige Verhältnisse etwas absolut Ungewöhnliches war, dem Projekt eine Bedeutung verliehen, die weit über die Posteingänge der UserInnen und über Anekdoten von InsiderInnen hinausging.

Selbst in seinen frühesten Tagen aber war der Traffic von nettime alles andere als heldenhaft. Im Gegenteil, er war spärlich (20 Nachrichten im Dezember 1995, 53 im Januar 1996, 32 im Februar und so weiter), vom Zufall bestimmt und im Nachhinein betrachtet überraschend sanftmütig. Vieles davon waren Dinge, die aus dem Netz stammten und mit cut&paste eingefügt wurden – Dinge, die zu finden vor dem Zeitalter der webbasierten Suchmaschinen (Altavista startete am 15. Dezember 1995) einiges Suchtalent und einige Mühe erforderten. In diesem Sinne war der Fokus der Frühzeit weniger die Produktion eigens für nettime geschriebener Texte, sondern vielmehr – wie die Liste seit dem Februar 1996 in ihrer Signatur ankündigt – ein „kollaboratives Textfiltern“ als Technik, mit deren Hilfe eine „Kulturpolitik der Netze“ definiert werden sollte. Oder wie Schultz und Lovink in ihrer Einleitung zum „Print-out of nettime“, der für die „Next Five Minutes 2“-Konferenz in Amsterdam (18.-21.01.1996) hergestellt wurde, erklärten: „The quality of the texts is a product of social filtering of external material and it is editing.“4 Das Ergebnis war ein „mixed bag of micro pamphlets, action protocols, almost-manifestoes, dirty excerpts, quick transcriptions, pirated interviews, scanned philosophies, and last but not least <pure criticism>“ – kurz, eine eklektische Bricolage, die von einer Art kollektivem Subjekt in der Verbindung einer „semiclosed mailing-list“ zusammengestellt wurde.

UNBÄNDIGES EIGENLEBEN

An nettime Beteiligte waren ein ziemlich autonomer (oder auch autonomistischer) und stark an Do-It-Yourself-Strategien orientierter Haufen. Wenn also die Liste ein Erfolg werden sollte, war es unvermeidlich, ein unbändiges Eigenleben anzunehmen. Das war dann natürlich auch der Fall, und die Liste folgte hierin einem ganz typischen Verlauf – Bedenken hinsichtlich des Traffic-Volumens, Verzerrungen durch zu dominant oder programmatisch erscheinende Beitragende oder etwa der Wunsch, das Projekt zu formalisieren und zu institutionalisieren. Diese Spannungen wurden schließlich (wie vorhergesehen) zu einem zentralen Merkmal des Traffic der Liste selbst – in zunehmend reflektierten Debatten, welche die Veränderung der Liste von einem Instrument zu so etwas wie einer Organisation kennzeichneten.

Bevor diese Debatten online aufkamen, wurden aber bereits Diskussionen zu diesen Fragen „offline“ geführt – und zwar auf verschiedenen Treffen, die gleichsam „parasitär“ an Konferenzen und Kunstfestivals angedockt waren. Ein vorherrschendes Thema dieser Treffen war die Überzeugung, dass eine Mailingliste ein mangelhaftes Vehikel darstellte, zerrissen durch perverse und willkürliche Dynamiken – vor allem in der Frühzeit des Internet, weil für viele diese Dynamiken neu und ungewohnt waren. So schrieben zum Beispiel Lovink und Schultz über die „Hybrid Workspace“-Veranstaltung, die auf der Documenta X im Spätsommer 1997 stattfand: „in the near future many of the nettime threads will parallelize we hope. it is also about testing new info-architextures which diversify the enforced unity and silence of the mailinglist. it is an experiment is meant for all you who felt both overwhelmend by traffic and surpressed to chut up and listen while you actually wanted to add something.“5

Auf der anderen Seite hatten die persönlichen nettime-Treffen von Anfang an zu einer Reihe von Print-Publikationen geführt, die ironischerweise den Namen „Zentral Kommittee Proceedings“ trugen: ZKP1 (Next 5 Minutes 2, Januar 1996, Amsterdam); ZKP2 (Cyberconf 5, Juni 1996, Madrid); ZKP3 (Metaforum 3, Oktober 1996, Budapest); dann – angeheizt durch den Konflikt von Kunst-versus-Theorie, der schnell in diesem Milieu entstanden war – ZKP 3.2.1 (November 1996, Ljubljana), welches der net. art gewidmet und von Vuk Cosic und Heath Bunting herausgegeben wurde, und ZKP46, das für das einzig speziell für nettime organisierte Treffen namens „Beauty and East“ (veranstaltet im Ljubljana Digital Media Lab „Ljudmila“ im Mai 1997)7 gedruckt wurde.8

Zu Beginn bildeten diese Veröffentlichungen und Treffen noch einen positiven Kreislauf. Als die Liste aber in Größe und Statur wuchs, drehte sich dieser Kreislauf um und hatte immer teuflischere Folgen. Die letzte Publikation des ZKP 4, welches bei „Beauty and the East“ verteilt wurde, zeigt auf seiner letzten Seite eine cartoonhafte, verpixelte Ikone aus der „Heiligen Schrift“ mit dem Untertitel „coming soon“ – wenn es allerdings ein Projekt gab, das der zersplitterten Nicht-Gruppierung von nettime- AbonnentInnen total fremd war, dann war es mit Sicherheit die Erstellung einer nettime-Bibel. Während dann die Planung für ZKP5 fortschritt, erschienen immer gut gemeinte Botschaften „von“ nettime auf der Liste, was bei vielen TeilnehmerInnen Verwunderung darüber auslöste, wer dafür verantwortlich sei.

WIDERSPRUCH

Somit wurde der Widerspruch im Herzen von nettime immer offensichtlicher: Auf der einen Seite Lovinks und Schultz’ ursprünglich avantgardistische Vision eines expansiven Alternativmedien-Projekts, auf der anderen Seite eine eher bescheidene, anpassungsfähige und kommunitaristische Vorstellung, welche auf der tatsächlich bestehenden Liste entstanden war.

Ein Beispiel: Im September 1997 verwies eine Ankündigung des „Ad Hoc Komitee Kassel“, das Lovink und Schultz als „nettime-Brother“ inkludierte, geschickt, wenn auch „ironisch“ (im Ton, aber nicht in seiner operativen Logik) auf einige der Hauptbruchlinien:

„[W]e decided it would also be nice to have a lexicon of nettime terms (such as ‚gift economy‘, names and abbreviations like ‚V2‘, ‚Next 5 Minutes‘, and so forth). The glossary should be collectively produced by the nettime community. The committee believes that a glossary would be very helpful to newcomers, and aid people in preparing publications, like the upcoming ZKP (yes, ‚ZKP‘ should also be in the lexicon).“9

Nachrichten wie diese, die immer häufiger wurden, als sich das ZKP5 in README! verwandelte, führten dazu, dass verschiedene Stimmen immer lauter ihre Sorgen gegenüber dem nettime-Projekt kundtaten: dass das „ZK“ zu undurchsichtig, sein Gebrauch von „Wir“ anmaßend sei, dass die beträchtlichen Beiträge von net.artists auf aggressive Weise an den Rand gedrängt worden wären, dass es durch seine Printpublikationen sein eigentliches Ziel, nämlich eine immanente Kritik des Netzes im Netz voranzutreiben, aus den Augen verloren hätte und so weiter. In einigen Fällen wurden die Streitereien durch einzelne Mitglieder noch zusätzlich angefacht (z. B. Paul Garrin und antiorp), deren Agenden ihren kommerziellen Interessen folgten. Die daraus resultierenden „moderation wars“, die Lovink mit offensichtlicher Gelehrsamkeit, aber weniger offensichtlicher „Perspektive“ dokumentierte, wurden wiederum von Lovink, Schultz und ihren SympathisantInnen als Beweis dafür angeführt, dass Alternativen zur expansionistischen nettime-Vision der wahre Grund für den Streit sowohl in der Liste als auch in den ZK-Backchannels seien. Sie waren sicherlich ein zusätzlicher Faktor, aber lediglich in Bezug auf die tragische Vision von einer Mailing-Liste als mangelhaftem Medium, um Ideen zu verbreiten und dadurch möglicherweise Veränderungen herbeizuführen.

Der Wikipedia-Eintrag zu nettime legt großen Wert auf die Behauptung, dass „nettime zunächst eine Pre-Publishing-Plattform für internationale kritische Denker“ war, was auf brillante Weise gleichzeitig wahr und falsch war. Allerdings ist es kein Zufall, dass der Eintrag alternative Ansichten darüber, was nettime sein könnte und sollte, auslässt; dies ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, dass die Alternative die Liste selbst, und damit auch das Archiv, als greifbares, offenes und weitläufiges Zeugnis der Beiträge von Tausenden von Menschen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ansieht. Und auch die Tatsache, dass jene, die die Liste in den (zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes) letzten 13 Jahren betreut haben, nicht genannt werden, ist nicht etwas, was einfach nur vergessen wurde. Vielmehr ist es eine bewusste Entscheidung, sich von der Ebene der „Meta-Lorbeeren“ zu distanzieren und stattdessen jeden Tag, Schritt für Schritt zu einer Vision von nettime als andauernde und nachhaltige Ressource beizutragen, welche die „heroischen“ Konstellationen einer frühen, immanenten Netzkritik nach wie vor zu verbinden versucht – nicht in Form von Fetisch-Printproduktionen, sondern im tatsächlich existierenden Netz.

1 | Siehe: http://www.Nettime.org/info.html. Besucht am 4. September 2011.
2 | Siehe: http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/ view/961/882. Besucht am 4. September 2011.

3 | Das Zitat erschien in einer Amazon-Leserrezension zu „ReadMe! ASCII Culture and the Revenge of Knowledge“, geschrieben von dem User A Reader in Austin. Das Profil wurde mittlerweile gelöscht und mit ihm die Rezension.

4 | Siehe: http://www.Nettime.org/Lists-Archives/Nettime-l-9601/msg00033. html. Besucht am 4. September 2011.

5 | Siehe: http://www.Nettime.org/Lists-Archives/Nettime-l-9706/msg00210. html. Besucht am 4. September 2011.

6 | Siehe: http://www.ljudmila.org/Nettime/zkp4/toc.htm. Besucht am 4. September 2011. 7 | Siehe: http://www.ljudmila.org/Nettime/announce.htm. Besucht am 4. September 2011. 8 | Dieser Bericht vernachlässigt das deutschsprachige Buch „Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte“ (id-Verlag 1997), das Geert Lovink, Nettime und „Geert Lovink/Nettime“ verschiedentlich zugeschrieben wird.

9 | Siehe: http://www.Nettime.org/Lists-Archives/Nettime-l-9709/msg00027. html. Besucht am 4. September 2011.

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