TAG MAPcontentquery
LOG

MAP BROWSING HISTORY

MAP LEGEND

CONTENT TYPES
Texts Videos Images Authors Projects
TAG TYPES
General Tags Technologies Authors Places Names
SPECIAL TYPES
Root Topics

Eine virtuelle Welt ist möglich: von taktischen Medien zu digitalen Multituden. Vortrag auf der Konferenz "Dark Markets: Infopolitics, Electronic Media and Democracy in Thimes of Crisis", Wien, 4. Oktober 2002

Der Begriff „Taktische Medien“ stammt aus der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer und bezeichnet eine Renaissance des Medienaktivismus, in der die politische Arbeit alter Schule und die künstlerischen Auseinandersetzung mit neuen Medien miteinander kombiniert wurden. Die frühen Neunziger sahen ein wachsendes Bewusstsein für Genderthemen, ein exponentielles Wachstum der Medienindustrien und eine immer bessere Verfügbarkeit billiger Do-it-yourself-Gerätes, wodurch unter AktivistInnen, ProgrammiererInnen, TheoretikerInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen ein neues Selbstbewusstsein entstand.

[...]
1. Die 1990er und der taktische Medienaktivismus
Der Begriff „Taktische Medien“ stammt aus der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer und bezeichnet eine Renaissance des Medienaktivismus, in der die politische Arbeit alter Schule und die künstlerischen Auseinandersetzung mit neuen Medien miteinander kombiniert wurden. Die frühen Neunziger sahen ein wachsendes Bewusstsein für Genderthemen, ein exponentielles Wachstum der Medienindustrien und eine immer bessere Verfügbarkeit billiger Do-it-yourself-Gerätes, wodurch unter AktivistInnen, ProgrammiererInnen, TheoretikerInnen, KuratorInnen und KünstlerInnen ein neues Selbstbewusstsein entstand. Medien wurden nicht länger als bloße Werkzeuge für den Kampf angesehen, sondern wurden als virtuelle Umgebungen erfahren, deren Parameter ständig „im Umbau“ waren. Dies war das goldene Zeitalter der taktischen Medien, offen für Fragen der Ästhetik und das Experimentieren mit alternativen Formen des Geschichtenerzählens.

Diese befreienden Techno-Praxen übersetzten sich jedoch nicht sofort in sichtbare soziale Bewegungen. Vielmehr symbolisierten sie die den Jubel über die Medienfreiheit, was an sich schon ein großes politisches Ziel darstellt. Die Medien, die eingesetzt wurden – von Video, CD-ROM, Kassetten, Zines und Flyern bis hin zu eigenen Musikstilen wie Rap und Techno –, hatten sehr verschiedene Formen wie auch Inhalte. Ein oft geteiltes Gefühl war, dass politisch motivierte Aktivitäten, egal ob Kunst, Forschung oder Lobbyarbeit, nicht länger Teil eines politisch korrekten Ghettos waren und sehr wohl in die „Popkultur“ eindringen konnten, ohne Kompromisse mit dem „System“ eingehen zu müssen. Da alles neu ausverhandelt werden musste, konnten ganz neue Koalitionen gebildet werden. Die aktuellen weltweiten Bewegungen können nicht verstanden werden, wenn die sehr verschiedenen und oft sehr persönlichen Gründe für digitale Meinungsfreiheit außer Acht gelassen werden.

2. 1999-2001: Die Phase der Großen Mobilisierung
Ende der 1990er war es um die postmoderne „Zeit ohne Bewegungen“ geschehen. Die organisierte Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus, dem politischen Umgang mit dem Klimawandel, der Ausbeutung von Arbeitskräften und einer Vielzahl anderer Themen fand sich nunmehr zusammen. Ausgestattet mit Netzwerken und Argumenten und unterstützt von jahrzehntelanger Forschung, kam diese heterogene Bewegung – von Mainstreammedien fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet – richtig in Fahrt. Eines ihrer besonderen Charakteristika liegt in ihrer offensichtlichen Unfähigkeit und ihrem Widerwillen, die Frage zu beantworten, die normalerweise typisch ist für jede entstehende Be- wegung und für jede aufbegehrende Generation: Was sollen wir tun? Es gab und gibt keine Antwort, keine Alternative – weder strategisch noch taktisch – zur bestehenden Weltordnung und dem dominanten Modus der Globalisierung.

Und vielleicht ist dies auch die wichtigste und befreiendste Konklusion: Es gibt keinen Weg zurück ins 20. Jahrhundert, zum schützenden Nationalstaat und zu den grausamen Tragödien der „Linken“. Es ist immer gut, sich an die Vergangenheit zu erinnern – aber auch, sie abzuschütteln. Die Frage „Was ist zu tun?“, darf nicht als Versuch gelesen werden, irgendeine Form leninistischer Prinzipien wiedereinzuführen. Zu allen Zeiten beschäftigt man sich mit Problemen wie Strategie, Organisation und Demokratie. Wir wollen weder alte Politiken durch die Hintertür wiedereinführen, noch glauben wir, dass diese dringende Frage abgetan werden kann, indem man auf Verbrechen verweist, die unter der Flagge von Lenin begründet wurden, auch wenn solche Argumente berechtigt sind. Wenn Slavoj Zizek in den Spiegel sieht, mag er Vater Lenin sehen, aber das ist nicht bei uns allen der Fall. Es ist möglich, aus dem Albtraum der vergangenen Geschichte des Kommunismus aufzuwachen und trotzdem noch zu fragen: Was ist zu tun? Kann eine „Multitude“ von Interessen und Herkünften diese Frage überhaupt stellen, oder ist die einzige Agenda jene, die durch den Kalender der Gipfeltreffen der Weltpolitik und der Wirtschaftselite bestimmt wird?

Dennoch wächst die Bewegung schnell. Auf den ersten Blick scheint sie ein ziemlich langweiliges und sehr traditionelles Medium zu verwenden: die Massenmobilisierung zehntausender Menschen auf den Straßen von Seattle, hunderttausender Menschen auf den Straßen von Genua. Und trotzdem spielen taktische Mediennetzwerke eine wichtige Rolle dabei, wie diese Bewegung entstand. Denn von nun an war die Mehrförmigkeit von Themen und Identitäten eine gegebene Realität. Diese Verschiedenheit wird auch nicht mehr verschwinden und muss sich nicht länger gegenüber höheren Autoritäten wie der Partei, der Gewerkschaft oder den Medien legitimieren. Verglichen mit früheren Jahrzehnten ist dies der größte Gewinn. Die „Multituden“ sind kein Traum oder theoretisches Konstrukt, sondern Realität.

Wenn es überhaupt eine Strategie gibt, so liegt diese nicht in der Unvereinbarkeit, sondern in der sich gegenseitig ergänzenden Existenz. Trotz theoretischer Überlegungen gibt es keinen Widerspruch zwischen Straße und Cyberspace. Das eine befruchtet das andere. Proteste gegen die WTO, gegen die neoliberale EU-Politik und gegen Parteitage werden nun alle vor der gesamten Weltpresse abgehalten. Indymedia taucht als Parasit der Mainstreammedien auf. Statt um Aufmerksamkeit betteln zu müssen, finden Proteste während der Gipfeltreffen der PolitikerInnen und Wirtschaftschefs heute unter den Augen der Weltpresse statt und suchen die direkte Konfrontation. Auf der anderen Seite werden auch symbolische Orte ausgewählt: Grenzregionen (Ost-Westeuropa, USA-Mexiko) oder Internierungszentren für Flüchtlinge (der Frankfurter Flughafen, die zentralisierte Eurocopdatenbank in Straßburg oder das Woomera Auffanglager in der australischen Wüste). Anstelle eines bloßen Dagegen, fügt der globale Anspruch der Bewegung dem derzeit vorherrschenden Regierungsmodus der Globalisierung eine neue Ebene von unten hinzu.

3. Verwirrung und Resignation nach 9/11
Auf den ersten Blick ist die Zukunft der Bewegung eine verwirrende und irritierende. Die großen Interpretationsachsen der alten Linken, die den US-Imperialismus und seine aggressive, unilaterale Außenpolitik nach den Theorien von Chomsky, Pilger und anderen Babyboomern erklären, werden nach wie vor mit Interesse gelesen, passen aber nicht mehr so recht ins große Ganze. In einer polyzentrischen Welt können Verschwörungstheorien den Verwirrten nur für kurze Zeit Trost spenden. Es ist längst keine moralistische Verdammung des Kapitalismus mehr notwendig, da die Fakten und Geschehnisse für sich sprechen. Menschen werden nicht durch Analysen (weder unsere noch jene von Hardt & Negri), sondern durch ihre konkrete Lebenssituation auf die Straße getrieben. Die wenigen verbleibenden Linken können die Bewegung nicht länger mit einer Ideologie bedienen, da sie auch ohne Ideologie ganz wunderbar auskommt. „Wir brauchen eure Revolution nicht.“ Sogar die sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er, die in ihren starren NGO-Strukturen eingesperrt waren, tun sich schwer damit, Schritt zu halten. Neue soziale Gebilde übernehmen die Straßen und Medienräume, ohne das Bedürfnis nach Repräsentation durch eine höhere Autorität zu verspüren, noch nicht einmal die heterogenen Komitees, die sich in Porto Alegre treffen.

Bisher war diese Bewegung an klar definierte Zeit/Raum-Koordinaten gebunden. Es dauert immer noch Monate, um die Multituden zu mobilisieren und die Logistik zu organisieren, von Bussen und Flügen, Campingplätzen und Herbergen bis hin zu unabhängigen Medienzentren. Diese Bewegung ist alles außer spontan (und gibt auch nicht vor, es zu sein). Die Menschen, die hunderte oder tausende Kilometer weit fahren, um bei Protesten dabei zu sein, tun das nicht aus irgendeiner romantischen Vorstellung des Sozialismus heraus, sondern aufgrund realer Anliegen. Die alte Frage nach „Reform oder Revolution?“ klingt eher nach Erpressung, um die politisch korrekte Antwort hervorzurufen.

Der Widerspruch zwischen Egoismus und Altruismus ist ebenfalls ein falscher. Die staatlich unterstützte Unternehmensglobalisierung betrifft uns alle. Internationale Gremien wie die WTO, das Kyoto-Abkommen zum Klimawandel oder die Privatisierung des Energiesektors sind nicht länger abstrakte Pressemeldungen, mit denen sich BürokratInnen und (NGO-) LobbyistInnen auseinandersetzen. Diese politische Einsicht war der große Quantensprung der letzten Zeit. Ist dies dann die Letzte Internationale? Nein. Es gibt keinen Weg zurück zum Nationalstaat, zu traditionellen Befreiungskonzepten, zur Logik von Überschreitung und Transzendenz, Exklusion und Inklusion. Die Anstrengungen werden nicht länger auf ein entferntes Anderes projiziert, das unsere moralische Unterstützung und unser Geld braucht. Wir sind jetzt in der post-solidarischen Epoche angekommen. Folglich wurden nationale Befreiungsbewegungen durch eine neue Analyse der Macht ersetzt, die einerseits unglaublich abstrakt, symbolisch und virtuell, andererseits furchtbar konkret, detailliert und persönlich ist.

4. Die Herausforderung heute: die regressive dritte Phase des marginalen moralischen Protests zu liquidieren Glücklicherweise wirkten sich die Anschläge des 11. September 2001 nicht unmittelbar auf die Bewegung aus. Die Wahl zwischen Bush und Bin Laden war irrelevant. Beide Agenden wurden als verheerende Fundamentalismen abgelehnt. Die viel zu offensichtliche Frage, wessen Terror schlimmer wäre, wurde vorsichtig vermieden, da sie von den dringlichen Fragen des Alltags wegführt: der Kampf um das Existenzminimum, akzeptablen öffentlichen Verkehr, Gesundheitsversorgung, Wasser, etc. Da sowohl die Sozialdemokratie als auch der real existierende Sozialismus stark vom Nationalstaat abhingen, klingt eine Rückkehr ins 20. Jahrhundert so desaströs wie alle Katastrophen, die er produzierte. Das Konzept einer digitalen Multitude ist ein gänzlich anderes und basiert ganz und gar auf Offenheit. In den letzten paar Jahren haben die kreativen Bemühungen der Multituden auf vielen verschiedenen Ebenen Resultate erbracht: die Dialektik der Open Source, der offenen Grenzen und des offenen Wissens. Dennoch ist die tiefe Durchdringung des Prinzips des Kampfes mit Konzepten wie Offenheit und Freiheit keinesfalls ein Kompromiss mit der zynischen und gierigen neoliberalen Klasse. Progressive Bewegungen haben sich schon immer mit einer radikalen Demokratisierung der Regeln des Zugangs, der Entscheidungsfindung und des Teilens erworbener Kapazitäten beschäftigt. Üblicherweise geschah dies aus einem illegalen oder illegitimen gemeinsamen Raum heraus. Innerhalb der Grenzen der analogen Welt führte dies zu verschiedenen Spielarten von Kooperativen und selbstorganisierten Unternehmen, deren spezifische Vorstellung von Gerechtigkeit darauf basierte, dass sie versuchten, das brutale Regime des Marktes zu umgehen und andere Arten des Umgangs mit knappen materiellen Ressourcen zu finden.

Wir streben nicht einfach nach echter Gleichheit auf einem digitalen Niveau. Wir sind inmitten eines Prozesses, der die Totalität eines revolutionären Menschen sowohl global als auch digital ausmacht. Wir müssen neue Wege finden, wie wir die rohen Daten der Bewegungen und Kämpfe lesen können, um ihr experimentelles Wissen verständlich zu machen; um die Algorithmen seiner Einzigartigkeit, Nonkonformität und Nichtverwirrbarkeit zu kodieren und zu dekodieren; um die Narrative und Bilder einer wahrlich globalen Konnektivität zu erfinden und zu erneuern; und um den Source Code allen zirkulierenden Wissens zu öffnen und eine virtuelle Welt zu installieren.

Wenn man diese Anstrengungen auf das Niveau der Produktion umlegt, werden neue Formen der Subjektivität infrage gestellt, was fast zwangsläufig zu dem Ergebnis führt, dass wir alle ExpertInnen sind. Der Superflux menschlicher Ressourcen und der helle Glanz alltäglicher Erfahrungen gehen auf dramatische Weise verloren in der „Akademifizierung“ radikaler linker Theorie. Stattdessen lebt das neue ethisch-ästhetische Paradigma im pragmatischen Bewusstsein affektiver Arbeit weiter, in der nerdigen Einstellung einer digitalen Arbeiterklasse, in der Allgegenwärtigkeit migrantischer Kämpfe, genauso wie in vielen anderen grenzüberschreitenden Erfahrungen, in tief gehenden Vorstellungen von Freundschaft innerhalb vernetzter Umgebungen genauso wie in der „realen“ Welt. [...]

Content type
text
Projects Vergessene Zukunft - Radikale Netzkulturen in Europa
World-Information Institute
Date 2012
Location Vienna

Tags

Cyberspace Taktische Medien Multituden WTO Netzwerke Antiglobalisierungsbewegung CD-ROM Porto Alegre Slavoj Zizek
No query in this session yet. Please use the tag map to the left to get a listing of related items.