Kunststreiks als Zeitgewinn. Für eine wilde Reterritorialisierung der Zeit
Gustav Metzger war schon immer bekannt für seine ganz speziellen Projekte. 1959 hatte er in seinem ersten Manifest den Begriff der »auto-destruktiven Kunst« eingeführt und als eine »Form der öffentlichen Kunst für Industriegesellschaften« bezeichnet. In den frühen 1960er Jahren hatte er der auto-destruktiven Kunst den komplementären Begriff der auto creative art hinzu gefügt, also einer Kunst der sich selbst generierenden Bilder und Objekte. Seine aus diesen konzeptionellen Überlegungen entstandenen »liquid chrystal projections« waren Mitte der 1960er Jahre unter anderem für die psychedelischen Bühnenshows von Bands wie The Cream, The Who und The Move benutzt worden. 1966 hatte Metzger das viel beachtete und einflussreiche Symposium »DIAS – Destruction in Art Symposium« in Lon¬don organisiert, an dem die Wiener Aktionisten Nitsch, Brus und Mühl, aber auch Yoko Ono, Al Hansen, Jean-Jacques Lebel, Wolf Vostell u.v.a teilnahmen. Doch der Höhepunkt der kunst- und politikgeschichtlichen Relevanz Metzgers war wohl der Versuch, die Dialektik von destruction und creation gänzlich zu durchbrechen: 1974 lieferte er für die Ausstellung »Art into Society – Society into Art« im Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) kein Objekt, auch kein selbst-schaffendes oder sich selbst abschaffendes Objekt ab, sondern nur einen schriftlichen Beitrag für den Ausstellungskatalog. In dessen Zentrum stand ein Aufruf, in dem er sich und seine Künstler-KollegInnen zum Streik aufrief. Gustav Metzger schrieb darin:
«[…] Im gesamten 20. Jahrhundert haben Künstler die vorherrschenden Weisen der Produktion, Distribution und Konsumption angegriffen. Angriffe auf die Verfasstheit der Kunstwelt haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dieser Kampf, der auf die Zerstörung der existierenden kommerziellen und öffentlichen Marketing- und Patronage-Systeme zielte, kann noch im Laufe dieses Jahrzehnts zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Die stärkste Waffe der Arbeiter im Kampf gegen das System ist die Verweigerung der Arbeit; genau dieselbe Waffe können auch Künstler einsetzen. Will man das Kunstsystem zerschlagen, müssen Jahre ohne Kunst ausgerufen werden: In einem Zeitraum von drei Jahren – von 1977 bis 1980 – produzieren und verkaufen Künstler keine Werke, bestücken keine Ausstellungen und verweigern die Zusammenarbeit mit jeglichem Teil der Medienmaschinerie des Kunstbetriebs. Diese vollständige Niederlegung der Arbeit stellt eine Kampfansage extremster Form der Künstler gegen den Staat dar. […]«1
Schnitt. 30 Jahre später. Mitten in eine Live-Sendung eines großen französischen TV-Senders interveniert plötzlich eine bunte Truppe von AktivistInnen, die die gerade laufende Casting-Show mit einer Demonstration in eigener Sache unterbricht. Sie stellen sich als Intermittents oder Intermittents du spectacle vor, als jener Gruppe von KulturarbeiterInnen zugehörig, die in Frankreich seit den 1960er Jahren das Privileg der sogenannten »kulturellen Ausnahme« genießt, oder vielmehr bis 2004 genoss. Auf Basis der »exception culturelle« wurden KulturarbeiterInnen, sofern sie zwischen zwei Produktionen keine Einnahmen hatten und im Laufe eines Jahrs eine gewisse Gesamtstundenanzahl an Arbeit nachweisen konnten, aus der Arbeitslosenkasse bezahlt.
Aus ihrer eigenen Perspektive umfasst der Begriff der Intermittents nicht nur die Kerndisziplinen der Kunstproduktion, deren Arbeitsbedingungen die Unterbrechung geradezu die Regel gibt, sondern weite Teile all jener Personen, die im kulturellen Feld beschäftigt sind: »Wir sind Darsteller, Interpreten, Techniker. Wir beteiligen uns an der Produktion von Theaterstücken, Tanz-und Zirkusschauspielen, Konzerten, Schallplatten, Dokumentar-und Spielfilmen, Fernsehshows, Reality-TV, Abendnachrichten und der Werbung. Wir stehen vor und hinter der Kamera, auf der Bühne und in den Kulissen, wir sind auf der Straße, in den Klassenzimmern, den Gefängnissen, den Krankenhäusern. Die Strukturen, in denen wir beschäftigt sind, reichen von Non-Profit-Projekten bis zu börsennotierten Unterhaltungskonzernen. Als Beteiligte sowohl an der Kunst wie auch an der Industrie sind wir einer doppelten Flexibilität unterworfen: flexible Arbeitszeit und flexible Entlohnung. Die Regelung zur Versicherung und zur Arbeitslosigkeit der Intermittents du spectacle ist ursprünglich aus dem Bedürfnis entstanden, ein kontinuierliches Einkommen zu sichern, das die Diskontinuität von Beschäftigungsverhältnissen abfedert. Die Regelung ermöglicht es, die Produktion flexibel zu gestalten und die Mobilität der Lohnabhängigen zwischen verschiedenen Projekten, Sektoren und Beschäftigungen sicherzustellen […] In einer Epoche, in der die Verwertung der Arbeit mehr und mehr darauf beruht, dass die Individuen sich mit all ihren subjektiven Ressourcen in ihre Beschäftigung einbringen, und in welcher der dieser Subjektivität zugestandene Raum immer mehr eingeschränkt und formatiert wird, stellt [unser] Kampf einen Akt des Widerstands dar: Es geht darum, dass wir uns den Sinn unserer Arbeit auf persönlicher und kollektiver Ebene wieder aneignen.«2
Zurück zur konkreten Intervention der Intermittents in die Casting-Soap, die nur eine spezifische Variante des Widerstands der Intermittents neben der Bestreikung großer Festivals und spektakulären Protestaktionen darstellte: Ein paar Minuten herrschte Unklarheit, erhitzte Diskussion zwischen den Inter-mittents und dem Moderator, der trotz erkennbarer Abneigung gezwungen war, seine moderierende Rolle live weiterzuspielen; dann kamen die Sendungsverantwortlichen auf die naheliegende Idee, eine ziemlich lange Werbepause einzuschieben. Im Video, das die Intermittents selbst gleich nach der Aktion produziert und publiziert haben, sieht man auch, was hinter den Kulissen und während dieser Werbepause passierte: Die AktivistInnen wurden von privaten Sicherheitskräften brutal hinausgeprügelt, damit die Live-Sendung mit ihrer exhibitionierenden Vereinnahmung von Alltags-Kreativität wie gewohnt ihren Lauf nehmen konnte.
Zeitregime
In den geschlossenen Institutionen der industriellen Disziplinargesellschaft funktionierte die Reterritorialisierung der Zeit über die vorgängige Reterritorialisierung der Räumlichkeit. Es ging zunächst darum, den potenziellen FabriksarbeiterInnen ihren Wandertrieb auszutreiben. Die räumlich extremen Anstalten des Klosters, der Kaserne, der Fabrik, des Arbeiterquartiers, etc. schufen allerdings auch schon die perfekten Bedingungen der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung des gesamten Menschen. Das heißt, sie hatten ihre Effekte auch auf der Zeitebene. Die industriellen Produktions- und Existenzweisen waren bekanntlich bedingt durch ein besonderes Diktat der Zeitdisziplin und Pünktlichkeit: Glocken, Uhren, vor allem Stechuhren, Geldbußen für Unpünktlichkeit, manchmal auch Verlust des Arbeitsplatzes bei Verstößen gegen die Zeitdisziplin. Die Reterritorialisierung der nomadischen ArbeiterInnen funktionierte also nicht nur über die gemeinsame und strikt hierarchisierte Räumlichkeit der Fabrik. Sie implizierte auch eine strenge Rasterung und Standardisierung der Zeit.
Die Kerbung der Zeit betraf allerdings nicht nur die Arbeitszeit, sondern neigte auch schon im 19. Jahrhundert zur totalen Inwertsetzung der Existenz. Reterritorialisierung meinte hier schon einen Zugriff auf die gesamte Zeit der ArbeiterInnen; das Zeitregime war nicht nur eines der sozialen Repression in der gekerbten Zeit der Fabrik, sondern auch eines der Gouvernementalität, der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle in jenen Zeiten, die nicht in der Fabrik verbracht wurden. Für die einst nomadischen ArbeiterInnen bedeutete dies zunächst Sesshaftwerden, dann Einübung in gemeinschaftliche Vereins- und Assoziationsarbeit, und schließlich – anstelle der reinen Reduktion auf ein heteronomes Rädchen in einer riesigen industriellen Maschine – die Übernahme von Verantwortlichkeit für das Ganze.
Die totale Vernutzung der Zeit inkludierte schon in der Ära der Industrialisierung auch jene Tages- und Lebensphasen, die außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit lagen. Und dennoch waren diese Zeiten noch zugleich in sich selbst streng segmentiert und voneinander unterschieden. Die auf verschiedene Weise gekerbten Räume von Fabrik und Arbeiter-Heim prägten die strenge (geschlechtsspezifische) Differenzierung und Kerbung der Zeiten. Diese konkrete Form der Segmentierung von Zeit glättet sich mit der Entwicklung eines neuen Paradigmas. Heutige Subjektivierungsweisen in der Zerstreuung sind zweifelsohne Effekte dieser Glättungsprozesse, in denen die Orte der Produktion ebenso diffus werden wie die Zeiten. Die gouvernementale Logik der Selbstdisziplinierung verschwindet dadurch keineswegs, sie wirkt unter zusehends deterritorialisierten Bedingungen weiter, nun aber auch unter zunehmender Überschreitung der Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit. Und auch die Fabrik verschwindet nicht, sie verschwindet nur in ihrer gewohnten Form als Territorium der disziplinierenden Einschließung. Sie wuchert in alle möglichen Lebensbereiche, sie wuchert in die Stadt als Metropole, sie wuchert in die Gesellschaft, sie wuchert in die früher strikt anti-industriellen Bereiche der Kreativität.
In dieser Situation macht auch die strenge Gliederung in Arbeits-und Freizeit immer weniger Sinn: Die Zeit ist nach diesen Parametern nicht mehr klar zuordenbar, ihre Kerbung und Glättung erfolgt jenseits dieser Zuordnungen, und zugleich ist die gesamte Zeit aufgesplittert in viele verschiedene Zeitlichkeiten, die auch die klassische Arbeitszeit quasi ausfransen lassen: etwa eine Zeit der Arbeitssuche, eine Zeit der Ausarbeitung neuer Projekte, eine Zeit für nicht bezahlte Projekte, eine Zeit zur Reproduktion, eine Zeit der Aus- und Weiterbildung, eine Zeit zum Knüpfen der Netzwerke, etc. All diese Zeitlichkeiten lassen sich als neue und poröse Formen der Zeit-Kerbung begreifen, mal bezahlt, mal nicht bezahlt, manchmal völlig mit den Zeiten und Räumen dessen verstrickt, was früher mit dem Wort Freizeit belegt war.
Der möglichst totale Zugriff auf die ganze Zeit und ihre vielen Territorien wird eine schier unendliche Quelle für neue Verwertungsmöglichkeiten, und dieser Zugriff hat zugleich das potenzielle Versiegen dieser Quelle zur Folge. Mit den Worten des französischen Philosophen und Soziologen Maurizio Lazzarato: »Die Jagd auf all diese ‹toten Zeiten›, Zeiten der Unterbrechung, unausgefüllten Zeiten und Zeiten des Zögerns, bringt es mit sich, dass ‹man niemals in der Gegenwart ist›, nämlich in der Gegenwart der Kreation, dass man also niemals in der Zeit ist, in der etwas entstehen könnte und in der sich etwas tun ließe, sondern in einer leeren Gegenwart, die bis ins Unendliche das Gleiche wiederholt.»3
Vor dieser Folie ist es nicht nur ineffektiv, sondern schier unmöglich geworden, die alten Widerstandsformen und Forderungen aus den gekerbten Räumen und Zeiten der Industrialisierung anzuwenden, welche reterritorialisierende Antworten auf die Reterritorialisierung von Arbeit und Leben gaben. Die nationale Gewerkschaft, der klassische Streik und die traditionelle Sabotage stellen heute höchstens noch Details in einem notwendigerweise wesentlich breiteren Spektrum von Widerstand dar. Doch auch die pure Anrufung der Deterritorialisierung, von Nomadismus, Dezentralität und Zerstreuung reicht nicht aus, um Fluchtlinien aus dem gegenwärtigen, diffusen Gefüge von sozialer Unterwerfung und Selbstregierung zu ziehen. Aktuelle Formen des Widerstands müssen mehr denn je beide Bewegungen vollziehen und erneuern, die der Reterritorialisierung und die der Deterritorialisierung.
Industria als wilde Betriebsamkeit
Die Industrie war nicht nur nicht immer schon ein Wurmfortsatz der Kreativität, wie in »Kreativitätsindustrie». Sie war auch nicht immer schon, was sie im 18. Jahrhundert geworden ist. industria ist ein lateinisches Wort, das im klassischen Latein soviel wie »Tätigkeit», »Regsamkeit», »Betriebsamkeit» bedeutete. Im englischen »industrious» ist diese Bedeutung etwa heute noch aufgehoben. Diese Bedeutung ist es auch, die aufs Neue aktualisiert werden kann, um eine Subjektivierungsweise zu entwickeln, die die »Souveränität» über die Zeit zurückge-winnt: industria als selbstbestimmende Wiederaneignung der Zeit, als wilde Betriebsamkeit, die glatte und gekerbte Zeiten in den Flüssen der Re- und der Deterritorialisierung neu entstehen lässt.
Damit komme ich zurück auf die beiden Beispiele vom Anfang dieses Texts. Die These ist, dass gerade die oben beschriebenen Interventionen, die frühe Intervention Gustav Metzgers in die Kunst-Ökonomie und jene der Intermittents in die Kulturindustrie, exemplarisch sind für die andere Seite der Industrie: Unterbrechungen, die in ihrer wilden Betriebsamkeit zugleich neue Re- und neue Deterritorialisierungen erfinden. Ich muss allerdings zunächst zugeben: Bis auf einige großteils empörte Reaktionen gleich nach seiner Veröffentlichung blieb Gustav Metzgers Aufruf zur Einstellung der Kunstproduktion völlig folgenlos. Im Gegensatz zum reenactment der Aufforderung zum Kunststreik durch ein paar Neoisten im Jahr 1989 war der Vorschlag Metzgers nicht einmal Gegenstand irgendwelcher Diskussionen oder Überlegungen zur Konkretisierung. Metzger führte den dreijährigen Streik von 1977 bis 1980 im Alleingang durch. Doch das hat wohl vor allem damit zu tun, dass er seiner Zeit voraus war und sich in zuvor unbeschrittenes Territorium vorwagte.
Im Aufruf von 1974 bezog er sich zwar explizit auf den traditionellen Streik als »stärkste Waffe der Arbeiter im Kampf gegen das System«, und »genau dieselbe Waffe« sollten nun KünstlerInnen einsetzen; es hat also den Anschein, als ob Metzger hier die alte Widerstandsform des industriellen Kapitalismus differenzlos und einfach etwas verspätet auf das Kunstfeld übertragen wollte. Ähnlich wie er seine destructive art als »form of public art for industrial societies« versteht, werden nun auch die Widerstandsformen derselben Gesellschaftsformation der Industrialisierung aufgerufen. Doch ich möchte auf etwas anderes hinaus: Der Kunststreik ist nicht nur eine späte Adaptierung des Generalstreiks auf das Kunstfeld, sondern in gewisser Weise auch eine Avantgarde der Verweigerung in den postfordistischen Produktionsweisen. Gerade in jenem Feld, in dem die Haupt- Komponenten dieser Produktionsweisen vorweggenommen waren, längst bevor sich das postfordistische Paradigma als solches durchgesetzt hatte, präfigurierte Metzger, wie ein Streik in den glatten und auf neue Weise gekerbten Zeiten aussehen könnte: Er versuchte, die Arbeitsverweigerung gerade im Kunstfeld zu etablieren, das nicht nur durch extremes Konkurrenzverhalten, hohen Innovationsdruck und äußerste Zerstreuung der Produktionsorte geprägt ist, sondern vor allem durch die spezifische Glätte seiner Zeitlichkeit. Das Zeitregime von künstlerischer Produktion nahm in gewissen Aspekten jene nur scheinbar selbstbestimmten Subjektivierungsweisen vorweg, die im Postfordismus immer mehr soziale Felder bestimmen. Im Kunstfeld fanden sich also proto-postfordistische Bedingungen, und damit müssten auch genau im Kunstfeld die Bedingungen gegeben sein, um die Avantgarde des postfordistischen Streiks im Sinne der anderen Seite der Industrie zu entwickeln.
Glatte Zeiten, gekerbte Zeiten: Die neue Form der Verweigerung besteht weder in einer Wiederholung der Reterritorialisierungsweisen noch im romantischen Bestehen auf eine deterritorialisierende Flucht aus jedweder Reterritorialisierung. Sie entwickelt neue Weisen der De- und der Reterritorialisierung der Zeitregime. Schon in seinem Streikaufruf hatte Metzger darauf hingewiesen, dass während des Kunststreiks nicht einfach nichts geschehen sollte: »Anstelle der Kunstpraxis können die Leute ihre Zeit auf die unzähligen historischen, ästhetischen und sozialen Aspekte verwenden, die die Kunst betreffen.«4 In einem Interview mit dem deutschen Kunsthistoriker und Kurator Justin Hoffmann antwortete Metzger noch 1997 auf die Frage, was denn das konkrete Ziel des Kunststreiks gewesen sei: »Die Vertiefung in Theorie allgemein, das Recherchieren, um die Gesellschaft besser verstehen und kritisch betrachten zu können. Ziel war es, die kritischen Potenziale innerhalb von drei Jahren aufzubauen, so dass die Künstler am Ende des Streiks ein anderes Verständnis, einen anderen Platz in der Gesellschaft hätten.»5
Was bedeutet diese Beschreibung der Ziele des Kunststreiks für die doppelte Notwendigkeit neuer Formen der De- und Reterritorialisierung? Deterritorialisierung muss sich hier exakt auf die Unterbrechung des gesamten – nunmehr in seiner Gänze deterritorialisierten – Zeitregimes beziehen, nicht nur desjenigen, das die Arbeit regiert, sondern desjenigen, welches das gesamte Leben umfasst. Und Reterritorialisierung heißt die neuerliche Kerbung dieses gesamten Zeitregimes in einem spezifischen Sinn, nämlich im Sinn der selbstbestimmten Nutzung für eine Verlagerung der Produktion selbst, für eine Verschiebung der Industrie der Kreativität auf »einen anderen Platz in der Gesellschaft». Was heißt es, die Unterbrechung des zunehmend totalen postfordistischen Zeitregimes gerade in einem Feld zu erproben, dessen Spezifikum es immer schon war, unter der Bedingung von Unterbrechung und Diskontinuität zu existieren? Diese Frage ist auch gerade die zentrale Frage jener Gruppe, die die Unterbrechung selbst zum Namen gebenden Hauptbegriff gemacht hat. Der Kampf der Intermittents ist sieben Jahre nach der katastrophalen Reform der »exception culturelle» wohl objektiv für verloren zu erklären. Aber die vielen Erfahrungen des Austausches über die prekären Lebens- und Arbeitsweisen, die militanten Untersuchungen, die kollektiven Forschungen sind eine experimenteller Erfahrungsschatz, der das einsame proto-postfordistische Unternehmen Gustav Metzgers überschreitet und die glatten Räume und Zeiten seiner Subjekte in neuer Weise gekerbt hat.
Die Intermittents hatten das »Privileg» der »kulturellen Ausnahme» genutzt, um eine selbst gewählte Form der glatten Zeit zu erproben. Zugleich füllten sie aber auch die unterbrochene Zeit mit der neuen, betriebsamen Industrie ihrer Streiks, Interventionen und Aktionen. Intermittenz bedeutete damit nicht nur mehr die prekäre Existenz im glatten Dazwischen des kulturellen Felds, sondern auch eine Kette von de- und reterritorialisierenden Brüchen jener totalen Zeitlichkeit, in der kein reguläres Verhalten mehr existiert, sondern nur eine Kontinuität von Diskontinuität. Wie Gustav Metzgers Kunststreik die deterritorialisierende Komponente der Verweigerung mit der reterritorialisierenden Komponente der Verlagerung der Produktion verbindet, geht es in den Kämpfen der Intermittents um eine doppelte Bewegung der Glättung und neuerlichen Kerbung ihrer Zeitlichkeit.
Das Modell der »kulturellen Ausnahme» wirkt aber erst dann als Industrie neuer Art, wenn es nicht mehr im Sinne eines Berufsstands-Privilegs nur für die »sowohl an der Kunst wie auch an der Industrie» Beteiligten eingefordert wird, sondern wenn die gesellschaftliche Absicherung der Prekären im kulturellen Feld als beispielhaft für alle Prekären verstanden wird und die eigenen, zunächst begrenzten Forderungen transversalisiert werden in einen allgemeineren Kampf um soziale Rechte. Hier gilt es, immer neue adäquate Formen der Unterbrechung zu finden, sowohl auf der Ebene des Ereignisses, des temporären Bruchs der glatten Zeit, als auch auf der Ebene der Dauer, die uns grundlegende Möglichkeiten schafft, all die »kulturellen Ausnahmen«, die das Kunstfeld so bietet, für eine wilde Wiederaneignung unserer Zeit zu nutzen und diese wilde Industrie als Exempel anderen Bereichen zur Verfügung zu stellen und zu transversalisieren.
Anmerkungen
1 Gustav Metzger, »Art Strike 1977-1980«, http://www.thing.de/ projekte/7:9%23/y_Metzger+s_Art_Strike.html.
2 GlobalProject / Coordination des Intermittents et Précaires d‘Ile de France, »Spektakel diesseits und jenseits des Staates. Soziale Rechte und Aneignung öffentlicher Räume: die Kämpfe der französischen In-termittents« http://eipcp.net/transversal/0704/intermittents/de.
3 Maurizio Lazzarato, »Ökonomische Verarmung und Verarmung der Subjektivität im Neoliberalismus«, http://www.thenextlayer.org/ node/1126.
4 Gustav Metzger, »Art Strike 1977-1980«, http://www.thing.de/ projekte/7:9%23/y_Metzger+s_Art_Strike.html.
5 »Die Erfindung des Art Strike. Gustav Metzger im Interview mit Justin Hoffmann«, http://www.ourmotherofpearl.org/retold/articles/hilfe_archive/Hilfe4/art.htm.
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Projects | Nach dem Ende der Politik World-Information Institute |
Date | November 2011 |
Location | Vienna |