Massenzynismus
Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world, The blood-dimmed tide is loosed, and everywhereThe ceremony of innocence is drowned; The best lack all conviction, while the worstAre full of passionate intensity. (Yeats: The Second Coming)
Im Buch »Der Mut zur Wahrheit«, einer Transkription der 1984 am Collège de France gehaltenen Vorlesung »Die Regierung des selbst und der anderen«, spricht Michel Foucault von Diogenes und den anderen antiken Philosophen, die heute unter dem Namen Zyniker zusammengefasst werden. Er verbindet ihr Gedankengut mit der Praxis, die Wahrheit zu sagen (parrhesia). Heutzutage bedeutet das Wort »Zynismus« etwas völlig anderes, ja fast das Gegenteil: eine zynische Person ist heute, wer routinemäßig seine Umgebung täuscht, insbesondere sich selbst. Die vertrauliche Lüge, der Widerspruch zwischen dem Sprachakt und dem, was man tatsächlich glaubt, liegt im Zentrum des modernen Zynismus. Trotzdem gibt es ein Fortbestehen der antiken Idee des Zynismus, der sich durch extreme Aufrichtigkeit, Individualismus, asketisches Verhalten und eine Verachtung der Macht auszeichnete, im modernen Zynismus, der durch Lippenbekenntnisse, moralische Unverlässlichkeit und konformistische Unterwerfung und Anbiederung an die Mächtigen gekennzeichnet ist. Die Kontinuität liegt genau in jener Aufhebung der Beziehung zwischen Sprache und Realität, im Bewusstsein der doppeldeutigen Natur von Sprache, vor allem in der Sphäre der Ethik. Daher hat Zynismus viel mit Ironie gemein: beide sind rhetorische Formen und ethische Haltungen, die auf der Aufhebung der Beziehung zwischen Realität und Sprache basieren.
Deutsche Philosophen wie Tillich und Sloterdijk, die sich mit diesem Thema befassen, verwenden in ihren Schriften zwei verschiedene Begriffe, um den antiken Zynismus (Gegenstand von Foucaults Vorlesungen) und den modernen Zynismus voneinander abzugrenzen: Kynismus und Zynismus. Um zu verstehen, was der moderne Zynismus darstellt, kann man sich Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut vergegenwärtigen, der ein künstlerischer Grabstein für die moderne Illusion der progressiven Aufklärung ist. Bill und Alice, das glücklich verheiratete Paar (Fridolin und Albertine in Schnitzlers Traumnovelle von 1926, die Kubricks Drehbuch beeinflusst hat) sind Ausdruck des Bewusstseins, dass die Wahrheit nicht ausgedrückt werden kann, da das Spiel des Sozialen auf der Macht der Lüge basiert. Niemand wird dir zuhören, wenn du die Sprache der Verstellung nicht akzeptierst.
Das ist der Punkt, an dem Kubrick im 20. Jahrhundert ankommt. Der Beginn lag in Dax, dem aufrichtigen Colonel, der, verkörpert von Kirk Douglas, in Paths of Glory (1957) gegen die Feigheit der Militärmacht kämpft. Dax glaubt an etwas, das ethisch »gut« ist und hat daher die Stärke und den Mut, sich gegen das Böse zu stellen: er glaubt daran, dass das Böse nicht nur aufgehalten, sondern auch besiegt werden kann.
Bill Harford, in Eyes Wide Shut (1999) von Tom Cruise dargestellt, hat wohl noch die Fähigkeit, Schandtaten zu erkennen und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, doch er weiß, dass nichts getan werden kann, um das Böse aufzuhalten. Wenn er überleben will, muss er sich dem Druck des Bösen anpassen, selbst wenn das auf moralischer Ebene unglücklich macht. Am Ende jenes Jahrhunderts, das der Zukunft vertraut hat, scheint Zynismus die einzig akzeptierte Sprache zu sein, das einzig »coole« Verhalten. Der Begriff »cool« ist ohnehin ein Schlagwort des heutigen Zynismus, da der Widerspruch zwischen »cool« und »zynisch« die Idee nahelegt, dass die einzige Alternative zum Zynismus die Leidenschaft sei, wie sie Glucksmann in seinem Film Cynisme et passion (1981) darstellt. Dies ist jedoch falsch. Die wahre Alternative zum Zynismus ist nicht Leidenschaft, sondern Ironie.
In seinem 1983 publizierten Werk »Kritik der zynischen Vernunft« argumentiert Peter Sloterdijk, dass Zynismus jene geistige Haltung sei, die in der Ära nach 1968 am weitesten verbreitet war. Sloterdijk porträtiert den Zynismus nicht als außergewöhnliche Denkweise im sozialen Gefüge, sondern als eine sehr durchschnittliche Mentalität. »Es verstößt gegen den Sprachgebrauch, Zynismus als universales und diffuses Phänomen zu bezeichnen; in der allgemeinen Vorstellung ist Zynismus nicht diffus, sondern markant; nicht universell, sondern abseitig und hochindividuell.« (Sloterdijk, S. 34) Dies ist die wichtigste Unterscheidung zwischen Kynismus und Zynismus: während Diogenes und seine Mit-Kyniker asketische Individualisten waren, die die stille Duldung des Rechts der Mächtigen entschieden ablehnten, stellen die modernen Zyniker die konformistische Mehrheit unserer Zeit. Sie wissen sehr wohl, dass das Gesetz des Stärkeren schlecht ist, aber sie geben nach, weil ihrer Meinung nach nichts dagegen getan werden kann. Zeitgenössischer Zynismus ist kein Störfaktor, sondern die Internalisierung der Ohnmacht der Wahrheit.
»Ja, hierauf kommt es beim modernen Zynismus wesentlich an: auf die Arbeitsfähigkeit seiner Träger – trotz allem, nach allem, erst recht. […] Eine gewisse schicke Bitterkeit untermalt sein Handeln. Denn Zyniker sind nicht dumm, und sie sehen durchaus hin und wieder das Nichts, zu dem alles führt. Ihr seelischer Apparat ist inzwischen elastisch genug, um den Dauerzweifel am eigenen Treiben als Überlebensfaktor in sich einzubauen. Sie wissen, was sie tun, aber sie tun es, weil Sachzwänge und Selbsterhaltungstriebe auf kurze Sicht dieselbe Sprache sprechen und ihnen sagen, es müsse sein.« (Sloterdijk, S. 37)
Zeitgenössischer Massenzynismus kann auf zwei verschiedene Wurzeln zurückgeführt werden: eine ist das Versagen der utopischen Ideologien des letzten Jahrhunderts. Die zweite, mächtigere, ist die Wahrnehmung der Unumkehrbarkeit und Unwiderlegbarkeit der Ausbeutung von Arbeit, Wettkampf und Krieg. Zeitgenössischer Massenzynismus ist daher eine Konsequenz der Auflösung der Solidarität, des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Neoliberale Deregulierung und vor allem die Globalisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarkts haben den Wettbewerb als den unausweichlichen Modus der Beziehung zwischen sozialen AkteurInnen festgelegt. ArbeiterInnen, die vor langer Zeit einmal durch soziale Solidarität und gemeinsame politische Hoffnungen vereint waren, fühlen sich heute gezwungen, zynisch zu denken: es geht bloß noch um das »survival of the fittest«.
In der 68er Bewegung lebten verschiedene Kulturen und verschiedene politische Erwartungen miteinander. Jene, die von der historischen Aufhebung träumten, erwarteten die Einsetzung einer proletarischen Diktatur und waren bereit, die Macht zu ergreifen. Sie glaubten auf sehr hegelianische Art, dass schließlich die Vernunft siegen würde und dass die Guten dazu bestimmt seien, den Kampf zu gewinnen. Daher blieben sie auf der Seite der ProletarierInnen, um an der Seite der GewinnerInnen der Geschichte zu stehen. Als sich der Wind gegen Ende der Sechzigerjahre drehte, die ArbeiterInnenbewegung besiegt war und die neoliberale Ideologie einer neuen Welle der kapitalistischen Aggressivität Tür und Tor öffnete, entschieden sie sich dazu, sich erneut an die Seite der GewinnerInnen zu stellen. Denn alles was ist, ist vernünftig. In ihrem dialektischen Denkschema sind diejenigen, die gewinnen, auch im Recht – und diejenigen, die Recht haben, sind dazu bestimmt, zu gewinnen.
Aber die Mehrheit der RebellInnen von ´68 waren keine orthodox marxistisch-leninistischen DialektikerInnen und erwarteten in ihrer unmittelbaren Zukunft auch keine Aufhebung. Der Glaube galt nicht dem Ende historischer Komplexität und der endgültigen und perfekten Form des Kommunismus. All das klang hohl in den Ohren der StudentInnen und jungen ArbeiterInnen, die Autonomie in der Gegenwart suchten, aber nicht Kommunismus in der Zukunft.
Die neoliberalen KonformistInnen von heute sind die pervertierten ErbInnen von 1968. Jene, die nach 1989 an die Macht gekommen sind – in Russland, in den USA, in Europa – sind nicht so frei von Ideologie, wie sie gerne vorgeben. Ihre Ideologie ist eine Art dogmatischen Glaubens an die Nicht-Hinterfragbarkeit der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat den Platz eingenommen, den bei Hegel die allumfassende dialektische Vernunft hatte. Sie tendieren dazu, die am stärksten scheinende Macht zu verbiegen und die wirtschaftliche Notwendigkeit zu akzeptieren. Das Problem ist bloß, dass niemand weiß, was im komplizierten Lauf der Dinge als stärkster Trend entstehen wird. Aus diesem Grund ist Zynismus schwach (obwohl es den Eindruck erweckt, als wäre seine Stärke unbesiegbar): weil man es nie wissen kann, und weil die nicht reduzierbare Singularität der Geschehnisse weder vorhergesagt, noch auf logische Notwendigkeit reduziert werden kann.
Ironie und Zynismus
Sloterdijk setzt an vielen Stellen seines Buchs Zynismus und Ironie gleich, und er ist damit nicht der einzige. »Von ganz unten, aus der deklassierten städtischen Intelligenz, und ganz oben, aus den Spitzen des staatsmännischen Bewusstseins, dringen Signale in das seriöse Denken, die von einer radikalen Ironisierung der Ethik und der gesellschaftlichen Konvention Zeugnis ablegen, gewissermaßen als seien die allgemeinen Gesetze nur für die Dummen da, während um die Lippen der Wissenden jenes fatal kluge Lächeln spielt.« (Sloterdijk, S 35)
Natürlich kann ironische Sprache, so wie Sarkasmus, eine aggressive Form der Ironie, ein Ausdruck des Zynismus sein. Doch Ironie und Zynismus sollten nicht gleichgesetzt werden. Ironie kann ein linguistisches Werkzeug für zynisches Verhalten sein: sowohl Ironie als auch Zynismus implizieren eine Loslösung von Sprache und Verhalten vom Bewusstsein: was man sagt, ist nicht, was man denkt. Aber diese Loslösung unterscheidet sich in Ironie und Zynismus sehr stark.
In seinem Buch »L‘ironie« definiert Vladimir Jankélévitch Zynismus mit den folgenden Worten: »Zynismus ist oft betrogener Moralismus und eine extreme Form der Ironie. […] Zynismus ist nur eine hektische Form der Ironie, die Lust daran empfindet, die Philister zu schockieren. Zynismus ist die Philosophie der Überbietung (surenchère): nach Sokrates tendiert die Ironie dazu, eine Übertreibung des moralischen Radikalismus zu sein.« (Jankélévitch S. 15-16) Zynismus ist hintergangener Moralismus, eine Wertung von Verhalten, das auf einem fixen System moralischer Werte aufbaut. Diamat, die dialektische Philosophie des letzten Jahrhunderts, implizierte eine Art des Moralismus. Was immer in die Richtung der Geschichte zeigte, war gut (Fortschritt, Sozialismus, etc.), was immer dieser Tendenz entgegenlief, war schlecht. Post-68er-Zynismus war daher die Konsequenz eines schmerzhaften Erwachens. Die neue Maxime war: Da die Wahrheit nicht in Erfüllung gegangen ist, werden wir uns auf die Unwahrheit einlassen.
Hier unterscheiden sich Ironie und Zynismus. Der ironische Diskurs setzt nie die Existenz einer Wahrheit voraus, die in Erfüllung gehen und in die Tat umgesetzt werden muss. Ironie setzt die Unendlichkeit des Interpretationsprozesses voraus, während Zynismus einen (verlorenen) Glauben voraussetzt. Die zynische Person hat ihren Glauben verloren, während die ironische Person nie einen Glauben hatte. In den Worten von Jankélévitch: »Ironie wird nie desillusioniert aus dem guten Grund, da die Ironie es immer abgelehnt hat, sich Illusionen hinzugeben.« (Jankélévitch S. 32) Der gemeinsame Ausgangspunkt von Ironie und Zynismus ist dieser: sowohl ZynikerInnen als auch IronikerInnen setzen den Glauben an den moralischen Gehalt der Wahrheit (und auch an den wahren Gehalt der Moral) aus. Sie wissen, dass das Wahre und Gute weder im Willen Gottes noch im Lauf der Geschichte existiert, und sie wissen, dass menschliches Verhalten nicht durch den Respekt der Gesetze geprägt ist. In seinem Werk »Présentation de Sacher Masoch: Le froid et le cruel« schreibt Deleuze auch über Ironie und Gesetz: »Als ‚Ironie‘ benennen wir die Bewegung, die darin besteht, über das Gesetz hinauszugehen, auf ein höheres Prinzip zu, um dem Gesetz eine geringere Macht zu geben.«
Ironie und Zynismus glauben nicht daran, dass Gesetze auf der Wahrheit basieren. Aber die zynische Person biegt sich nach dem Gesetz und verhöhnt gleichzeitig seine Werte als prätentiös und falsch, während die ironische Person dem Gesetz entkommt und einen linguistischen Raum schafft, in dem das Gesetz keine Wirkungskraft entfaltet. Eine zynische Person, wer auf der Seite der Macht stehen will, gleichzeitig aber nicht an die Gerechtigkeit dieser Macht glaubt. Die ironische Person hingegen verweigert sich diesem Spiel und erschafft die Welt auf der Basis einer Sprache, die sich von der Realität unterscheidet. Massenzynismus ist erlittene oder ausgelebte Aggression; Ironie basiert auf Mitgefühl. Während zynisches Verhalten die Lüge in der Beziehung mit dem Gegenüber bedingt, bringt Ironie ein gemeinsam bewerkstelligtes Aussetzen der Realität mit sich. Wenn man in einem sozialen Kontext ironisch ist, dann setzt man voraus, dass die GesprächspartnerInnen dieselben linguistischen Implikationen, dieselben Annahmen teilen. Deshalb kann Ironie nie mit Lüge gleichgesetzt werden. »Die Lüge ist ein Zustand des Kriegs, und die Ironie ein Zustand des Friedens. Der Lügner stimmt nicht mit dem Belogenen überein. Das leichtgläubige Bewusstsein ist verglichen mit dem lügenden Bewusstsein, das immer seinen Vorteil beizubehalten sucht, immer im Hintertreffen. Die Ironie hingegen misst dem Gesprächspartner Verstandesschärfe bei und behandelt ihn als wahren Partner in einem wahren Dialog. Die Ironie stachelt den Intellekt an und ruft nach einem brüderlichen Echo des Verstehens.« (Jankelevitch, 63-64)
Die italienische Diktatur der Bedeutungslosigkeit
In den 1970ern, beeinflusst durch die Lektüre von Deleuze und Guattari, entdeckte das Bewusstsein der autonomen Bewegung, dass die Realität keine Bedeutung hat: die Bedeutung der Realität musste von der Bewegung selbst geschaffen werden. Dadurch wurde die autonome Bewegung von der Idee befreit, dass der ethische Horizont durch historische Notwendigkeit gekennzeichnet sei. Sie öffnete sich der ironischen Stimmung, d.h. der Singularisierung ethischer Verantwortung und politischer Wahl. In diesem (post-dialektischen) Raum moralischer Unentschlossenheit sind linguistische Ausdrucksweise und politische Tatkraft frei jeder ontologischen Fundierung. Wille zur Macht und Suche nach dem Guten, die im Rahmen der historischen Ideologie miteinander verwoben waren, gehen heute auseinander. Hier öffnet sich die Schere zwischen Ironie und Zynismus.
Ironie setzt den semantischen Wert des Signifikanten aus und wählt frei zwischen tausend möglichen Interpretationen. Die ironische Interpretation impliziert eine gemeinsame Basis des Verstehens zwischen den GesprächspartnerInnen und setzt diese voraus; ein Mitgefühl zwischen jenen, die im ironischen Akt verbunden sind, und eine gemeinsame Loslösung von der Diktatur des Signifikaten. Zynismus beginnt bei dem gleichen Ansatzpunkt, ist aber eine sklavenhafte Modulation der Ironie – er ist Ironie im Dienste der Macht. Ironie postuliert nicht die Existenz irgendeiner Realität; Zynismus postuliert die unausweichliche Realität der Macht, vor allem die Macht der Wirtschaft. Ironie ist die Öffnung hin zu dem Spiel mit unendlichen Möglichkeiten; Zynismus ist die Trennung von Ethik und Möglichkeit. Die zynische Lebensart beginnt bei der Idee, dass ethisches Handeln keinerlei Möglichkeit hat, erfolgreich zu sein.
IronikerInnen schlummern ruhig, da sie durch nichts aus ihren Träumen aufgeweckt werden können. ZynikerInnen haben einen leichten Schlaf: sie schlafen, sie träumen, doch sie erwachen, wenn die Macht sie ruft. Die Verbindung von Ironie und Zynismus ist für mich schon seit den 1970ern ein interessantes Thema, da zu dieser Zeit in Italien eine kulturelle Bewegung, die auf der Massenpraxis von Ironie begründet war, durch eine riesige Welle des organisierten Zynismus aufgesaugt und zerstört wurde, die schließlich in der Mediendiktatur Berlusconis mündete. Wir können den Übergang von den 1970ern zu den 1980ern in Italien als einen Übergang von Ironie zu Zynismus festmachen. Damit will ich nicht sagen, dass die 1970er in Italien ein ironisches Jahrzehnt gewesen wären, ganz und gar nicht. Unglücklicherweise war die politische Kultur alles andere als ironisch. Doch in einem bedeutenden Teil der italienischen Gesellschaft dieser Jahre war eine ironische Grundstimmung die Basis für das gegenseitige Verstehen.
Die wichtigste Veränderung in der Medienlandschaft, das Ende des staatlichen Monopols auf elektronische Medien und die darauf folgende Verbreitung von Radiostationen kennzeichnen einen Sprung heraus aus der scheinheiligen Ernsthaftigkeit des offiziell katholisch-kommunistischen Mediensystems, hinein in den ironischen, maoistisch-dadaistischen Stil der autonomen, inoffiziellen Medien, die die kulturelle Stimmung und die soziale Sprache in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts beeinflussten. Aber die Bewegung der freien Radios, die die rebellischen Ideen der Autonomie in die Sprache und das Verhalten eines großen Teils der ersten postmodernen Generation injizierten und die 1977 zur letzten Explosion der anti-autoritären Dekade führte, die 1968 ihren Anfang genommen hatte, öffnete die Tür für das Eindringen der Werbung und des Kommerz-TV in die Medienlandschaft.
Publitalia und Mediaset, die beiden Geschöpfe Berlusconis, die in den 1980ern die beiden dominanten Firmen im Kulturbereich wurden, ahmten den linguistischen Stil der Radios nach, stellten jene an, die aus den Rängen der Bewegung kamen, und trugen maßgeblich zur Verwandlung der Ironie in Zynismus bei. Die Intellektuellen, die den Stil des Berlusconi-TV entwarfen und jene, die die Vorstellungskraft der Werbewelt der 1980er prägten, kamen von radikalen linguistischen Experimenten auf Radio Alice, A/traverso und ähnlichen neu-dadaistischen Erfahrungen. Der Übergang vom Lebensgefühl der freien Radiokultur zu den kommerziellen Fernsehstationen ist wahrscheinlich der beste Ausgangspunkt, von dem aus die kulturellen Veränderungen begriffen werden können, die in den 1980ern stattfanden und das Land an den Rand der Katastrophe brachten, an dem es heute steht und dessen Konsequenzen schwer vorherzusehen sind. Diese Veränderung ist am besten als Übergang von Ironie zum Zynismus zu beschreiben.
Wenn er auch nicht als Schriftsteller oder Ideologe bekannt ist, so hat der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi – eines der bemerkenswertesten Beispiele jener Spielart des Zynismus, die heute in der Welt weitverbreitet ist – ein Vorwort zum Werk »Lob der Torheit« des Erasmus von Rotterdam geschrieben. Die Aufwertung der barocken locura bedeutet in diesem Fall die Bestätigung der Zufälligkeit von Macht. Der kulturelle Hintergrund der italienischen Post-Demokratie kann im Wechsel von der katholisch-kommunistischen Identität, die durch den Respekt vor politischen Formalitäten und den ideologischen Kompromiss geprägt war, hin zu jener Mischung des unternehmerischen Pragmatismus und der aggressiven Verrücktheit, die als spezielles Merkmal von Berlusconis neuer Klasse gilt, gesehen werden. Der Kult einer ambivalenten Freiheit, die nicht wirklich Freiheit ist, sondern Verachtung und Manipulation der anderen, ist das ideologische Kennzeichen von Berlusconis politischer Identität.
Literatur
Deleuze, Gilles: Présentation de Sacher Masoch: Le froid et le cruel. Editi¬ons de Minuit, Paris 1967.
Jankélévitch, Vladimir: L‘ironie, Flammarion, Paris 1964.
Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983
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Date | November 2011 |
Location | Vienna |