Netz.Kultur.Österreich. Ergebnis der gleichnamigen Tagung vom 12. Dezember 1998 im Museumsquartier in Wien
Die neuen Technologien und die Medienkommunikation verändern sich am Beginn des 21. Jahrhunderts mit weiterhin zunehmender Beschleunigung. Digitale Medien sind nicht nur der wirtschaftliche Motor der Informationsgesellschaft, sondern stehen im Mittelpunkt einer nachhaltigen Veränderung unserer sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.
Während viele gesellschaftliche Fragestellungen der letzten Dekaden noch nicht aufgearbeitet wurden, sind neue soziale Verwerfungen und Konfliktpotentiale zu erwarten. Dazu zählen die Spaltung in eine Zwei- Klassen-Gesellschaft von „Usern“ und „Losern“, die Entwicklung neuer Machteliten und Medienkonzentrationen sowie eine zunehmend von Manipulation und Desinformation geprägte Telekratie. Die fortschreitende Einschränkung des zentralen Bürgerrechts auf Privatsphäre verweist auf ein Szenario totaler Kontrolle anstelle einer dem Geist der Aufklärung verpflichteten Informationsgesellschaft mit neuen Formen partizipativer Demokratie.
In der Bewußtseinsbildung zu kulturellen und sozialen Implikationen neuer Informationstechnologien gibt es österreichweit Defizite und Wissenslücken bei PolitikerInnen, JournalistInnen, in der Verwaltung, in Interessenvertretungen und bei anderen EntscheidungsträgerInnen.
Die Homogenisierung der Gesellschaft und die schleichende Entmündigung der BürgerInnen durch den Transfer von Entscheidungskompetenz zu ExpertInnensystemen und technisch operativen Abläufen bedingt als Gegengewicht die Notwendigkeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft durch die emanzipatorische Nutzung neuer Technologien. Vor allem Kunst und Kultur können in diesem gesellschaftlichen Umbruch die Rolle der Wegbereitung für neue Inhalte und einen sozialen Einsatz von Technologie wahrnehmen: Kleine, bewegliche Einheiten schaffen als Vorreiterinnen die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung der Gesellschaft, indem sie mit experimentellen Projekten dem Mainstream Impulse geben und Grundlagenarbeit leisten.
Im Bewußtsein der Notwendigkeit von Pluralismus im kulturellen Feld muß also eine lebendige partizipative Neue-Medien-Szene gefördert und weiterentwickelt werden, die einen konstruktiven Part innerhalb des Dritten Sektors neben Staat und Konzernen spielen kann.
Medienkunst und Netzkultur sollen nicht unkritische Hymnen auf die vernetzte Gesellschaft singen, sondern emanzipatorische Anliegen mittragen: Networking impliziert nicht nur elektronische Vernetzung, sondern den lebendigen Austausch von Inhalten. Dazu bedarf es Produktionsräume für virtuellen Content, Kulturschnittstellen zu neuen Kommunikationstechnologien und Plattformen der direkten Kommunikation auch für die vernetzte politische Arbeit.
Um diese gesellschaftlichen Funktionen erfüllen zu können, braucht es Bandbreite und Access zu digitalen Netzwerken. Analog zu den bereits bestehenden universitären Netzen und den im Bau befindlichen Schulund Bildungsnetzen, bedarf es der Einrichtung von Kulturnetzen, eines Cultural Backbone im Internet.
Dem interdisziplinären Charakter der vernetzten Arbeit in diesen digitalen Medien müssen auch die administrativen Strukturen und die Ebenen der EntscheidungsträgerInnen Rechnung tragen und eine Reorganisation der interministeriellen und transministeriellen Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Kunst, Medien und Neue Technologien anstreben. Österreich besitzt ein großes Potential an kultureller Qualifikation und eine gute Ausgangslage für modellhafte Lösungen. Es ist notwendig, die in Österreich bereits vorhandenen Ressourcen und international beachteten Leistungen weiterzuentwickeln und damit die Leistungsfähigkeit des kulturellen Sektors in einer von Technologie geprägten Gesellschaft zu unterstützen.
Zugang und Anbindung an das Internet
Aktive Partizipation und Mitgestaltung der elektronischen Netzwerke durch Kulturschaffende ist nur möglich, wenn die dazu notwendigen infrastrukturellen Rahmenbedingungen gegeben sind. Österreich hat in diesem neuen Feld die Möglichkeit, seinen kulturellen Content in die Welt zu tragen. Dazu ist die Ermöglichung des freien und hochqualitativen Zugangs zu Technologien und Infrastruktur notwendig.
Dem Wesen der digitalen Netze entsprechend müssen niedrigschwellige, dezentralisierte Strukturen mit sozialer Durchlässigkeit als Schnittstellen zum emanzipatorischen Gebrauch neuer Informationstechnologien eingerichtet werden. Diese Schnittstellen sollen einerseits technische Infrastruktur im Sinne elektronischer Produktionsstätten anbieten und an- dererseits Know-How-Austausch ermöglichen. Den lokalen Bedürfnissen angepaßt, sollen die Schnittstellen Einzelpersonen und Organisationen aus dem Kunst- und Kulturbereich Zugang zu neuen Kommunikationsund Informationstechnologien bieten. Die bereits bestehenden dezentralen Plattformen und Initiativen für Medienkunst und Netzkultur müssen strukturelle Förderungen erhalten (Infrastruktur/Investition/Personal). Tragfähige und regional verankerte Strukturen ermöglichen Wissenstransfer, minimieren die Redundanz bei Anschaffungskosten und stellen die Grundlage für die Auseinandersetzung mit Neuen Technologien und das Erwerben von Medienkompetenz dar.
Die Anbindung dieser Schnittstellen an ein breitbandiges Netzwerk innerhalb Österreichs, das gleichzeitig eine gute Anbindung an internationale Leitungen zur Verfügung stellt, soll als Cultural Backbone einerseits eine technische Netzwerkfunktion erfüllen und andererseits die Kooperation und Zusammenarbeit der einzelnen Kulturschaffenden ermöglichen und fördern.
Bei der Implementierung des Cultural Backbone sollen logistische Maßnahmen getroffen werden, die eine sinnvolle Ausnutzung bereits vorhandener Ressourcen und Know-How anstreben und Wissenstransfer im Sinne einer Weiterbildung der MitarbeiterInnen der Schnittstellen ermöglichen.
Dem Gedanken eines öffentlichen elektronischen Raums folgend, soll das universitäre und gemeinnützige ACOnet unter Einbeziehung anderer bestehender Infrastrukturen, wie etwa Schulnetze, die Basis für einen solchen Cultural Backbone sein. Der österreichische Cultural Backbone soll auch in jedem Fall in geplante europaweite Kulturnetze eingebunden werden und damit auch international agieren können.
Die österreichischen Kulturschaffenden haben einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der internationalen Datennetze zu leisten, der sich in hoch-qualitativem Content äußert. Die Kulturschaffenden im Internet sind daher als „GeberInnen“ zu bezeichnen, die Content für die Öffentlichkeit produzieren und damit Österreichs Ansehen in der Welt steigern.
Vermittlung von Medienkompetenz
Aufgrund der Überforderung der schulischen Ausbildungssysteme ist es notwendig, Umgebungen und Mechanismen zu schaffen, an denen und durch die Medienkompetenz verstärkt vermittelt wird. Um die Lebendigkeit und den demokratisch-kreativen Umgang mit den Möglichkeiten des Mediums Internet für alle zu erreichen und zu erhalten, sind auf mehreren Ebenen Schulungsprogramme durchzuführen und die dafür anfallenden Personalkosten von allen Gebietskörperschaften zu finanzieren.
1. Training und Qualifizierung von Kulturschaffenden in den regionalen Schnittstellen
Die regionalen Schnittstellen sollen, neben dem technischen Zugang, auch die Funktion einer Ausbildungsstelle erfüllen. Über die bestehenden, aber zu wenig zahlreichen klassischen Ausbildungsmöglichkeiten für Kulturschaffende hinaus, kann nur so die medien-adäquate Qualifizierung von KulturproduzentInnen sichergestellt werden. Schulung auf inhaltlicher Ebene wird speziell NeueinsteigerInnen im Bereich der Neuen Medien den Zugang zu den Möglichkeiten des Internets abseits vom Mainstream bieten und sie mit den für den Kulturbereich relevanten Möglichkeiten (RealAudio/Video, etc.) und Inhalten des Mediums vertraut machen.
2. Multiplikatoren-Ausbildung für die/in den regionalen Schnittstellen
Mittels eines mobilen Workshop-Teams, das bei Bedarf zur Verfügung steht, wird die Qualifikation von MultiplikatorInnen, d. h. MitarbeiterInnen regionaler Schnittstellen sowie interessierten Kulturinstitutionen in ganz Österreich vorangetrieben. Diese MultiplikatorInnen werden in weiterer Folge auf regionaler und lokaler Ebene selbst Schulungen vornehmen und so einen wichtigen Beitrag zu einer breiten, nicht-kommerziellen Nutzung des Mediums Internet leisten. Durch die technischen Programme (Aufsetzen und Betrieb von Servern, Routern, etc.) wird gewährleistet, daß die Vernetzung von regionalen Schnittstellen über den Cultural Backbone auf einem hohen Qualitätsniveau eigenständig bewerkstelligt und aufrechterhalten wird.
3. Medienkompetenzvermittlung für eine breite Öffentlichkeit
Lokale Kulturinitiativen waren nicht nur schon immer Vermittlerinnen von Medienkompetenz im Sinne von souveräner Handhabe zwischen Informationsselektion und technischem Grundverständnis, sondern auch selbst aktive Medienproduzentinnen in verschiedensten Feldern (Print, Radio, etc.) und Inhalten. Um auch im Bereich der Neuen Medien diesen ständigen Prozeß der Wissensvermittlung aufrechtzuerhalten und den aktiv-kreativen Umgang mit Medien im regionalen/lokalen Umfeld von Kulturinitiativen weiterzuführen und zu verankern, sind für die einzelnen lokalen Access-Points Finanzierungen für betreute Medien-Arbeitsplätze sicherzustellen. Nur so kann gewährleistet werden, daß eine breite Öffentlichkeit aus dem kulturellen Umfeld an dieser ebenso rasanten wie spannenden Entwicklung im Bereich der Neuen Medien teilhaben kann und selber zu aktiven Content-ProduzentInnen wird.
Notwendige Reformen der Kulturverwaltung
Für die neuen Phänomene zwischen Medienkunst und Netzkultur fehlt es derzeit an kompetenten AnsprechpartnerInnen und klar definierten Zuständigkeiten in Verwaltung und Politik. Innerhalb der Kunstsektion soll daher eine eigene Abteilung für Medienkunst und Netzkultur geschaffen werden, die für Struktur/Infrastrukturförderung einerseits sowie für Projekt/Content-Förderung andererseits zuständig ist. Längerfristig soll im Sinne einer Aufwertung und Zusammenführung von Kunst, Wissenschaft und Forschung eine Mediensektion in einem Zukunftsministerium eingerichtet werden, die nach denselben Gesichtspunkten strukturiert ist. Auch auf Landes- und Stadtebene ist dieses Modell umzusetzen.
a) Strukturförderung (Investitionen/Personal/Infrastruktur) für diesen technologie- und personalintensiven Bereich inkludiert Investitionen für Auf- und Ausbau einer Produktionsumgebung sowie die Förderung der nötigen Infrastruktur (Raum/Betriebskosten/Anbindungsund Leitungskosten) und des Betreuungspersonals.
b) Die Förderung von Medienkunstprojekten sowie Contentproduktionen hat sowohl innerhalb der bereits existierenden oder entstehenden Infrastrukturen wie auch darüber hinaus zu erfolgen. Bei Projekt- und Contentförderung müssen auch die Overhead-Kosten, technische Anschaffungen sowie KünstlerInnenhonorare für konzeptionelle/inhaltliche Entwicklung des Projekts Berücksichtigung finden.
Der Abteilung soll ein Aktivbeirat beigestellt werden, bestehend aus ExpertInnen der Medienkunst und Netzkultur, mit vorentscheidendem Charakter bei Finanzierungsempfehlungen, Rotationsprinzip und Verpflichtung zur Transparenz. Um die Kompetenzen in punkto Medienkunst und Netzkultur in allen Abteilungen zu forcieren und die Verwaltungen an neue künstlerische Entwicklungen anzupassen, sind ressortübergreifende flexibel agierende Instanzen – „Change agents“ – zu installieren. „Change Agents“ verkörpern ein subjektivistisches, zeitbegrenztes Modell der Einflußnahme auf neue Entwicklungen (ähnlich den BundeskuratorInnen), die quer oder zwischen den Ressorts keinen Platz in den herkömmlichen Förderungsstrukturen finden. Als Trendscouts sind sie direkte VermittlerInnen zwischen ExponentInnen neuer Kunstformen und der Verwaltung/Politik. Diese ExpertInnen können aufgrund ihrer Erfahrungen mit neuen kulturellen und künstlerischen Entwicklungen über die Grenzen der Verwaltungs- Strukturen hinweg Bewußtseins- und Bildungsarbeit bei BeamtInnen und PolitikerInnen leisten. Sie stehen bei Subventionsentscheidungen beratend zur Seite, tragen zur Organisationsentwicklung innerhalb der Verwaltungsstrukturen bei und evaluieren Strukturen/Entscheidungen/Trends. Nach dem bewährten Modell der BundeskuratorInnen im Bereich der bildenden Kunst soll auch für den Bereich von Medienkunst und Netzkultur einE KuratorIn installiert werden.
Zur Verstärkung einer gezielteren Zusammenarbeit zwischen Bundes-, Landes- und kommunalen FördergeberInnen bei der Finanzierung von Medien- und Netzkultur sind Kulturentwicklungsgespräche zwischen VertreterInnen aus Verwaltung (Stadt-Land-Bund), Interessenvertretung und Beirat zu institutionalisieren.
Schaffung von Öffentlichkeit und Verstärkung des Erfahrungsaustausches
Medienkunst manifestierte sich vor einigen Jahren sehr stark im Bereich der Videokunst und fand deshalb im Rahmen der „Diagonale“ noch ein Forum. Aufgrund ihrer Entwicklung zu einer mittlerweile verstärkt nonlinearen Erscheinungsform, läßt sie sich nun jedoch nicht mehr ohne weiteres bei einem Filmfestival präsentieren. Es gibt zwar das alljährliche Ars Electronica Festival, dieses ist jedoch genauso wie die Viennale eine international ausgerichtete Veranstaltung, die nur beschränkt der Präsentation und Diskussion des österreichischen Schaffens Rechnung tragen kann. Die Auseinandersetzung mit spezifischen österreichischen Bedingungen für die Produktion und Präsentation sowie kulturpolitische Entscheidungsfindungen für heimische Medien- und Netzkultur finden hier nur am Rande Platz.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer spartenspezifischen Veranstaltung der österreichischen Medienkunst und Netzkultur. Ähnlich der Diagonale sollte eine eigene Art Leistungsschau und Konferenz ins Leben gerufen werden, die vor allem eine auf die österreichischen Bedingungen/ Notwendigkeiten/Verhältnisse ausgerichtete Veranstaltung darstellt. Eine jährliche Klausur der österreichischen Medienkunstszene. Ein Forum. Ein Festival. Eine Fachtagung.
Die Veranstaltung soll alljährlich in einem anderen Bundesland stattfinden: eine Art „Dezentrale Digitale“, ein zirkulierendes Forum, das dem dezentralen Prinzip der Netzkultur Rechnung trägt. Es soll Rahmen für Präsentation, Diskussion und Erfahrungsaustausch der Produzierenden untereinander bieten.
Die Veranstaltung soll den Spannungsreichtum künstlerischer Experimente von prozeßhaften Entwürfen, technischen Innovationen bis zu interdisziplinärem CrossOver präsentieren und als nationales Forum für aktuelle Medienkunst und Netzkultur produzierende KünstlerInnen, interessierte Fachleute, AktivistInnen aus dem kulturellen Umfeld, MedientheoretikerInnen, KulturphilosophInnen und das interessierte Publikum zusammenbringen.
Themen einer solchen Veranstaltung sind nicht nur die Präsentation fertiger Werke, sondern auch die Rahmenbedingungen derartiger Produktionen und der Stellenwert künstlerischer Interventionen in der heimischen Informationsgesellschaft. Im Rahmen dieser Veranstaltung ist auch eine fixe Klausurbesprechung zwischen VertreterInnen von Verwaltung/Politik, SzenevertreterInnen, Beirat und Interessenvertretung wünschenswert. Ausrichtung von Förderrichtlinien, sowie sonstige Maßnahmen und Konzepte können hier gemeinsam mit den Betroffenen diskutiert und erarbeitet werden.
Die Veranstaltung soll von einem übergeordneten Komitee (mit eigenem Budget), das von der (zu gründenden) Interessenvertretung bestellt wird, organisiert und in enger Zusammenarbeit mit den jeweils regional ansässigen Initiativen ausgerichtet werden. Diese Veranstaltung hat dadurch auch den Effekt, daß die jeweilige regionale Szene in ihrem Wirkungsbereich gestärkt wird. Sie erfüllt so eine Schnittstellenfunktion im Rahmen regionaler, nationaler und internationaler Prozesse auf dem Gebiet elektronisch unterstützten zeitgenössischen Kunst-und Kulturschaffens.
Content type | text
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Projects | Vergessene Zukunft - Radikale Netzkulturen in Europa World-Information Institute |
Date | 2012 |
Location | Vienna |