Die Erfindung der Eventarbeit. Public Netbase in den 1990ern
Lernzentrum? Medienlabor? Kunstprojekt? Politische Kampagne? Was genau ist Public Netbase? Warum ist es entstanden? Woher ist es gekommen? Und wie sollen wir die Aktivitäten und die Motive dieses seltsamen und zugleich gerissenen Unterfangens verstehen, das sogar noch nach dem Ableben der dahinterstehenden Organisation weiter zu existieren scheint? Seit den frühen 1990er Jahren ist eine neue Form kollektiver Aktivität entstanden und hat den Weg ins öffentliche Blickfeld geschafft, doch haben wir dafür noch keinen neuen Begriff in unserer Sprache gefunden. Es gibt daher in unserem Vokabular ein Loch, eine stete Schwierigkeit der Ausdrucksfähigkeit. Das Fehlen eines treffenden Begriffs erfordert also eine Erfindung.
In diesem Text werde ich von einem Prozess sozialer Gestaltung sprechen – oder von der Eventarbeit. Man kann manche Annäherungen dieses Konzepts in den Wortschätzen experimenteller Kunst finden, doch diese Referenz alleine genügt bei Weitem nicht. Was hier auf dem Spiel steht, ist eine Aktivität, die vier Charakteristika hat und nicht einem einzigen Feld angehört, zumal die Befreiung von institutioneller Kontrolle ihr vorrangiges Ziel ist. Eventarbeit führt Bildung, Medien, Kunst und sozialen Aktivismus zusammen. Sie ist die charakteristische Kulturform der postfordistischen Ära und entsteht als Antwort auf die Professionalisierung und die konsequente Schließung der Sphären kultureller Aktivität, die durch den industriellen Modernismus vorgezeichnet wurden und ihre Blütezeit in der Phase der keynesianischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten. Die Anfangsstadien der Eventarbeit sind in den kulturellen Aufzeichnungen der 1960er und 1970er überall zu erkennen: Provos, Situationismus, Yippies, die politisierte Ästhetik des Punk. Aber denken wir nicht an diese Dinge, wie sie rezipiert und ka- talogisiert wurden – das heißt, als marginale Kunstströmungen –, denn dann begreifen wir das Wesentliche nicht, und diese Diskussion führt ins Nirgendwo.
Die professionalisierten kulturellen Bereiche sollten ihre Effekte durch Spezialisierung erreichen, jeder in seiner eigenen Institution und jeder nach intern geschaffenen Codes. Bildung war wertneutral, Kunst individuell transzendent. Die Medien waren angeblich objektiv (Nachrichten) oder unterhaltsam (Filme). Was die Politik betrifft – die war nur für Profis. Eventarbeit versucht hingegen, den Ort des Einflusses von diesen spezialisierten Institutionen hin zu den Welten der Alltagsexistenz zu verlegen. Dies soll allerdings nicht die Komplexität und Raffinesse ihrer Komponenten zerstören, deren operationale Wirkungskraft die Gesellschaft, in der wir leben, sowohl im Guten als auch im Bösen erschafft und erhält. Stattdessen versucht sie, diese spezialisierten Operationen öffentlich zu machen, um sie einer Kritik und Appropriation zu unterziehen. Ihr archetypisches Einsatzgebiet ist die Straße – aber eigentlich kann sie überall stattfinden. Das Auftauchen des Internet als frei appropriierbares und veränderbares Medium half mit, diese mögliche Allgegenwärtigkeit zu dramatisieren. Radikale Bildung, künstlerisches Experimentieren und politische Intervention konnten nun direkt inner halb einer Infrastruktur der Macht stattfinden, dem weltweiten Computernetzwerk, in dem alle Medien zusammenlaufen würden. Diese Breitenorientierung der Internetnutzung ist die historische Schlüsselstelle, an der etwas wie Public Netbase entstehen konnte. Die Notwendigkeit jedoch, das Verlangen und die Antriebskraft, die sie erschufen, reichen weiter in die Geschichte der überentwickelten Gesellschaften zurück, bis zu dem Moment, als die keynesianisch-fordistische Ideologie unter dem Druck ihrer eigenen Widersprüche zusammenkrachte.
Blicken wir zurück auf eines der eindringlichsten Beispiele der Eventarbeit, um zu sehen, woraus sie ursprünglich gemacht war und was sie noch nicht ganz geworden ist. Das Projekt, das ich besprechen will, fand weder in New York statt, wo Konzeptkunst angeblich erfunden wurde, noch in Paris, wo das subversive Aufbrechen des Situationismus verkündet wurde. Stattdessen fand es weit entfernt in Argentinien statt, in den Städten Buenos Aires und Rosario im Jahr 1968. Das Projekt brachte SoziologInnen, KünstlerInnen und ReportagejournalistInnen für politische Zwecke zusammen. Sein Name war Tucumàn Arde, d. h. „(die Provinz) Tucumán brennt“.
Argentinien hatte in den 1960ern eine unglaublich intensive Kunstszene. Es absorbierte Pop Art, Happenings und Konzeptkunst fast zur gleichen Zeit wie die USA und Großbritannien und gab diesen Formen eigene überraschende Wendungen, wie z. B. bei Roberto Jacobys Aufführung eines Happenings, das niemals stattfand, sondern nur aus falschen Kommuniqués und gefälschten Dokumenten bestand, um die Massenmedien zu verwirren. Argentinien war in den späten 1960ern jedoch auch eine Diktatur unter dem Stiefel von Juan Carlos Onganía, dessen vierjährige Herrschaft eine Vorbotin der viel blutigeren Diktatur nach 1975 war. Viele LateinamerikanerInnen betrachten diese Diktaturen als die funktionelle Basis, die der Etablierung des Neoliberalismus diente. In diesem Kontext wurde die Zuckerindustrie in der Provinz Tucumán brutal umstrukturiert, indem Kapital aus dem Ausland in die Hände der lokalen industriellen Eliten floss.
Die Kunstavantgarde in Buenos Aires kam damals mit kritischen SoziologInnen zusammen, die ein Mittel suchten, um über die Kommunikationsschranken ihrer Disziplin hinwegzukommen. Sie schufen eine Zusammenarbeit mit der weiter nördlich und näher an Tucumán gelegenen Stadt Rosario. Erkundungsfahrten wurden organisiert, die sowohl soziologische Überblicke als auch eine große Anzahl von schwarz-weißen Dokumentationsfotografien hervorbrachten. Mit einer Gewerkschaft wurde eine Partnerschaft eingegangen, um einen Raum für eine Ausstellung zu finden, die Information, Zeugenaussagen, Dokumentation und Agitation vereinen sollte. Vorab lockten Kampagnen mit Postern und Graffiti: Subversive PR-Techniken generierten so eine Aura der Mystik um etwas, das auf brutale Weise real war. Die Idee war es, die Kunst- und Sozialwissenschaftsmilieus zu radikalisieren, um den direkten Kontakt zwischen diesen Milieus und weiteren Sektoren der urbanen Intelligenz sowie linken politischen Kreisen zu erweitern und vor allem, um die nationalen Medien mit politischen Inhalten zu durchdringen, die als Avantgardekunst maskiert waren. Oder sollten wir sagen, dass diese Inhalte eigentlich aus der Kunst heraus in Eventarbeit verändert wurden? Die Resultate wurden zuerst in der Gewerkschaftshalle in Rosario gezeigt und danach in Buenos Aires, wo der Event unverzüglich zensuriert und geschlossen wurde. Lucy Lippard, eine berühmte Kritikerin der 1960er, kam in der Vorbereitungsphase nach Argentinien und entdeckte dort etwas, was sie „Kunst als Aktion“ nannte. Aber zurück in New York im Zentrum des Gallerie-Magazin-Museums- Kreislaufs blieb Kunst weiterhin strikt ein professionelles Feld, das auf die Produktion eines fortgeschrittenen Konsumguts abzielte. In Argentinien zerstreuten sich die TeilnehmerInnen von Tucumán Arde, und viele gingen in den Untergrund, in die Guerillabewegungen.
Was ist so bedeutsam an dieser „Anekdote“ aus einem Land, das eher am Rand als im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht? Ich glaube, wir sollten auf die Reaktion von Menschen achten, die in verschiedensten beruflichen Umfeldern in eine Situation dramatischer Machtlosigkeit und institutioneller Schließung gezwungen werden. Diese Situation wird natürlich durch die Bildung einer Diktatur verschärft. Aber niemand sollte sich täuschen: Die südamerikanischen Diktaturen der 1960er und 1970er waren das militärische Gesicht eines wirtschaftlichen Rationalisierungsprozesses, der seither als Neoliberalismus bekannt ist, weil er die früheren populistischen Ideale eines Wohlfahrtsstaats-Industrialismus durch eine viel direktere, brutalere Form des Kapitalismus des freien Handels ersetzte und den rauen Wettstreit zwischen den MitbewerberInnen sowie eine ungezügelte Ausbeutung der Arbeitskraft und der Ressourcen betonte. Die staatlich unterstützten öffentlichen Institutionen der fordistischen Epoche mit ihren starken internen Codes und ihren Ansprüchen auf Autonomie waren nicht dazu in der Lage, eine kritische Regulierung durchzuführen, die ihnen eigentlich oblag. Sie waren nicht fähig, das demokratische Staatsschiff in Richtung eines größeren sozialen Wohlstands und einer gerechteren Verteilung industrieller Güter zu lenken. Stattdessen trugen sie durch ihre Entdeckungen zur Perfektionierung des Kapitalismus bei, während sie die Möglichkeit ethisch-moralischer Standpunkte innerhalb verschiedener Berufsgruppen negierten – durch ihr Beharren entweder auf wertneutrales Handeln oder auf künstlerische Abstraktion, Objektivität, Unterhaltung oder Ähnliches. Das „Ausbrechen“, das von Tucumán Arde demonstriert wurde, ist eine Antwort auf das Sterben und de facto das politische Versagen der modernistischen Kulturinstitutionen.
Die „Sozialpartnerschaft“ im Österreich der 1990er war natürlich keine Diktatur. Aber dies war bereits das politische System, das es der neofaschistischen Freiheitlichen Partei erlaubte, auf der politischen Bühne aufzutreten – mit all ihrer rassistischen, fremdenfeindlichen Rhetorik, die in Europa seit damals blüht und gedeiht. Wie andere europäische Länder, war es auch der nationale Inkubator eines transnationalen Finanzkapitalismus, der seine Arme über die ganze Welt ausstreckte – ein Raum, der durch die Revolutionen nach 1989 geöffnet wurde, durch einen krisenempfänglichen Entwicklungsmodus, der zum Aufstieg dubioser pri- vatwirtschaftlicher Oligopole führte. Zu dieser Zeit waren die Form der schwachen Regulierung und die Beeinflussung der Politik durch Unternehmen, die den Neoliberalismus konstituieren, in den wichtigsten Zentren der kapitalistischen Welt schon ganz offensichtlich außer Kontrolle geraten, d. h. frei von jeglichen Einschränkungen, die theoretisch durch die „Volkssouveränität“ der BürgerInnen in einer Demokratie ausgeübt werden sollte. Das Internet half entscheidend dabei mit, unternehmerische Macht auszuweiten und die außergewöhnliche wirtschaftliche Kolonisierung des früheren Ostblocks durch das Ordnen von Finanzflüssen und die koordinierte Logistik von zeitoptimaler Produktion zu ermöglichen. Aber die Zwiespältigkeit sozialer Entwicklung kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die gleichen Bedingungen der postfordistischen Ökonomie den fruchtbaren Boden für eine neue Politik der Eventarbeit bereiteten, die in den 1990ern durch hybride Projekte wie Public Netbase erfunden wurde.
Fortsetzung folgt …
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Projects | Vergessene Zukunft - Radikale Netzkulturen in Europa World-Information Institute |
Date | 2012 |
Location | Vienna |