Interview mit Katja Diefenbach
Katja Diefenbach ist Theoretikerin, lebt in Berlin und leitet ein Forschungsprojekt zur Frage des Politischen im Postmarxismus an der Jan-van-Eyck-Akademie in Maastricht. Sie ist Mitglied des Berliner Verlags- und Buchhandlungskollektivs b_books und hat in den 1990er Jahren zu Netzkultur und -aktivismus geschrieben.
In Deutschlands gab es zu Beginn der 1990er Jahre eine sehr aktive Netzkulturszene, die sich aus unterschiedlichen Strömungen zusammensetzte. Wie kam es dazu?
Katja Diefenbach: Ich denke, man muss diese Entwicklung in einem größeren Zusammenhang rekonstruieren: Ende der 1980er Jahre haben sich manche Infoläden im Umfeld der autonomen Szene die Frage gestellt, inwieweit man die neuen Technologien für einen besseren Informationsaustausch nutzen könne. Damit veränderte sich die Art und Weise, wie in diesen Zusammenhängen über Medien nachgedacht wurde. Lange Zeit war die Diskussion in der radikalen Linken durch die Frankfurter Schule und deren kritische Auseinandersetzung mit technologischer Herrschaft, instrumenteller Vernunft und Kulturindustrie bestimmt. In den 1980er Jahren nahm die Rezeption poststrukturalistischer Philosophie zu, vor allem von Foucault, Deleuze und Guattari. In der sich allmählich bildenden Netzkulturszene fand eine subversionstheoretische Aneignung der nietzscheanischen und bejahenden Elemente des Poststrukturalismus statt. Auf subkultureller Ebene kamen die Techno- und Ravebewegung hinzu und mit ihr auch ein bestimmter Einfluss von Drogen, Musik und der Clubkultur der frühen 1990er Jahre. Gerade in Berlin haben sich diese unterschiedlichen Stränge überlagert, was sich auch an personellen Überschneidungen zeigte: So gehörte etwa Pit Schultz zu den Leuten, die die nettime-Mailingliste mit aufbauten, gleichzeitig aber auch an der Internationalen Stadt beteiligt waren und zum Umfeld des WMF zählten. Die Netzszene in Berlin, München und anderen Städten ging also aus der Begegnung oder dem Aufeinandertreffen von politischen, theoretischen und subkulturellen Elementen hervor: Eine radikale politische Haltung verband sich mit der Drogen- und Ausgehkultur der frühen Techno- und Clubszene, einer subversionstheoretischen Lesart von Deleuze und Guattari und einer Leidenschaft für das Netz, die neuen Medien und die Radiopiraterie.
Worin bestehen hierin Parallelen zu anderen europäischen Ländern?
Katja Diefenbach: In den Niederlanden gab es eine ganz ähnliche Entwicklung wie in Deutschland. Dort kam die HausbesetzerInnen-Szene mit Radio- und Netz-AktivistInnen sowie der Techno- und Gabber-Szene zusammen. Die Next5Minutes-Konferenzen, die von diesem Umfeld organisiert wurden, machten den Begriff der „tactical media“ stark, das heißt die Vorstellung eines subversiven, aktivistischen und interventionistischen Gebrauchs von Medien, der die Bedingungen der Situation, in der sie eingesetzt werden, ausdrückt, eine Taktik ohne Strategie sozusagen, ein reines Mittel. Aber auch Italien spielte früh eine besondere Rolle in der europäischen Netzkultur, weil dort bereits in den 1970er Jahren eine linksradikale Radioszene existierte. Die Autonomia Operaia wurde nicht nur von lokalen Fabrikkomitees, sozialen Kollektiven und Zeitschriften, sondern auch von freien Radiostationen wie Radio Onda Rossa in Rom, Radio Sherwood in Padua und Radio Alice in Bologna zusammengehalten. Es ging um eine doppelte Strategie: Zum einen experimentierten die Radios damit, dass die Medien von den Leuten, die sie rezipieren, in Gebrauch genommen werden. Das heißt, sie praktizierten eine Universalisierung des Zugangs bei gleichzeitiger Singularisierung des Ausdrucks. Zum anderen ging es darum, Medien in einem nicht-repräsentativen Modus einzusetzen, also diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die an den Aktionen in den Stadtvierteln, an den Unis oder in den Fabriken beteiligt sind und nicht ihre StellvertreterInnen. In dieser Tradition standen dann auch die ersten Netzinitiativen, die sich Anfang der 1990er Jahre im Umfeld der centri sociali bildeten. Ein anderer wichtiger Impuls kam von der freien Medienszene in Ost- und Südosteuropa, vor allem in Jugoslawien, wo die Netz-, Zine- und Radioszene eine wichtige Rolle während des Krieges spielte: sowohl am klassischen Pol der Gegeninformation – man denke nur an Radio B92 –, als auch am eher postklassischen Pol des subversiven, taktischen Mediengebrauchs.
Im Gegensatz zur damals dominanten Vorstellung eines virtuellen Parallelraumes, ging es den radikalen Netzkulturen vor allem um die Möglichkeit, in bestehende Prozesse einzugreifen. Welcher politische, aber auch theoretische Raum wurde damit eröffnet?
Katja Diefenbach: Der politische und theoretische Raum, der durch die Netzszene eröffnet wurde, war in einer spezifischen Weise ambivalent. Im Mittelpunkt standen vor allem subversionstheoretische Ansätze: Viele NetzaktivistInnen haben gedacht, sie wären durch ihren Mediengebrauch schneller, schlauer, wirksamer und gleichzeitig unsichtbarer als ihr hegemoniales Gegenüber, sprich Regierungen und Konzerne. Das war sozusagen das Spiegelstadium der Netzszene, ihre erste imaginäre Identifizierung, und daraus hat sich das Phantasma einer widerständigen Avantgarde gebildet. Auf theoretischer Ebene gab es großes Interesse an den Ideen der maschinischen Verkettung und des Rhizoms, die Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus und in Tausend Plateaus entwickelt hatten. Das Problem dieser Rezeption bestand aber darin, eine an Bejahung und Begehren ausgerichtete a-subjektive Theorie des Politischen auf die Medienstruktur zu übertragen. Das Netz selbst und seine vielheitliche, horizontale Struktur wurden als Rhizom identifiziert, was zu einer Auseinandersetzung über Technikdeterminismus und Technikoptimismus führte. Der Mehrheit dieser Szene entging die Ambivalenz des theoretischen und politischen Raums, den sie eröffnet hatte. Das heißt, die Mechanismen, aufgrund derer subversive Affirmation in normative Affirmation umschlagen kann, wurden vernachlässigt. Die Diskussionen über den Mainstream der Minderheiten und den Kommunismus des Kapitals, die die gesamten 1990er Jahre durchzogen, stellten auch eine Reaktion auf die Eindimensionalität einer zu einfach argumentierenden, subversionstheoretischen Netzdebatte dar. Die Kritik daran richtete sich allerdings nicht gegen die Haltung der Subversion oder die Eleganz spontanen Dissidentseins an sich, sondern gegen die auffällige Blindheit gegenüber der Naht, an der Subversion und biopolitischer Kapitalismus miteinander vernäht sind.
Allerdings wurde innerhalb der Netzszene auch schon früh diskutiert, wie man das rein subversive Moment überwinden und eine politische Position beziehen kann.
Katja Diefenbach: Ja, diese Diskussionen hat es gegeben. In ihnen ging es darum, dass jede Form von Politik sich schließlich reterritorialisieren muss. Reiner Exzess, reine Überschreitung oder Singularisierung sind ethische Erfahrungen. Das Politische besteht darin, diese Erfahrungen für alle potenziell zugänglich zu machen und deshalb alle Formen von Ausbeutung und Ausschluss, die die Menschen von den Möglichkeiten eines Lebens trennen, zu bekämpfen. Politik erfordert also, auf eine mittlere Geschwindigkeit zurückzukommen. Ihr Paradox besteht darin, dass die Organisationsanforderungen des Politischen den Möglichkeiten, sich in extremer Weise zu singularisieren und sein Leben zu verschwenden, entgegenstehen. Die Netzszene hingegen scheiterte an dem gegenüberliegenden Paradox, nämlich dass subversive Singularisierung und Freiheitsoptionen dem kapitalistischen Akkumulationsregime genauso zugrunde liegen wie der Ausschluss von ihnen. Mit anderen Worten, die Konzentration auf die deterritorialisierende Tendenz des Kapitalismus ließ viele AktivistInnen blind werden gegenüber den Mechanismen, mit denen diese Tendenz in das System zurückgebunden wird. Die populären Subversionsfiguren der Netzszene – Hacker und Medienguerillero – waren ja gleichzeitig diejenigen, die von Industrie und Behörden als BeraterInnen und ProgrammiererInnen übernommen wurden. Diese Auseinandersetzung ist heute in den Hintergrund getreten. Inzwischen hat sich auf der einen Seite die Gleichzeitigkeit von Subversionsanspruch und Anpassungsleistung weitgehend durchgesetzt – eine Art dissidenter Biedermeier scheint zum Normalfall geworden zu sein –, auf der anderen Seite müssen Firmen und Behörden kaum mehr auf dissidente oder minoritäre Gruppen zurückgreifen, weil das Wissen im Umgang mit den Neuen Technologien relativ breit vergesellschaftet worden ist.
Welche Implikationen hatte dieser Transformationsprozess Deiner Meinung nach?
Katja Diefenbach: Heute ist dieser Normalisierungsprozess weitgehend abgeschlossen, und junge ProgrammiererInnen oder DesignerInnen sehen sich wohl kaum in einem ideologischen Konflikt zwischen Dissidenz und persönlichem Erfolg, den es damals gab. Auf der Ebene der Universitäten zeigt sich ebenfalls, dass die Jahre des Hypes vorbei sind. Boomten in den 1990er Jahren die Medientheorie-Studiengänge, sind sie heute ein Angebot unter anderen kulturwissenschaftlichen Fächern. Damit liegt der Blick frei auf die enorme Rolle, die die Computertechnologien in der Umstrukturierung der industriellen Produktion, der Finanzmärkte und der Konsumtion gespielt haben, Themen, die in der Netzdebatte nicht so sehr im Vordergrund standen.
Inwieweit ist die damalige Situation und das in ihr generierte Wissen heute noch relevant?
Katja Diefenbach: Vielleicht geht es darum, zwei Elemente, über die wir bereits gesprochen haben, festzuhalten: zum einen die analytische Aufmerksamkeit für die mehrwertige Zusammensetzung von Situationen, zum anderen die politische und ethische Aufmerksamkeit, diese Mehrwertigkeit weder moralisch noch strategisch aufzulösen. Kurz gesagt heißt das, dass man weder existenziale Dissidenz entwertet, noch Politik auf die Bestimmung des „schwächsten Glieds“ einer Situation reduziert. Der vorschnelle subversionstheoretische Primat, der in der Netzdiskussion der Deterritorialisierungsbewegung beigemessen wurde, übersprang einen der wichtigsten methodologischen Einsichten des Poststrukturalismus: Gesellschaftliche Situationen, die per se mehrwertige, also aus verschiedenen Mechanismen zusammengesetzte Situationen sind, können niemals allein durch ihre aktuellste Tendenz – wie das Internet oder die immaterielle Arbeit – begriffen werden, sondern nur aufgrund der Spezifität, in der sich ihre unterschiedlichen Mechanismen zusammenfügen und in ihren Wirkungen gegenseitig verschieben.
Könnte man in diesem Zusammenhang also von einer „Geschichte des Scheiterns“ sprechen? Was ließe sich daraus lernen?
Katja Diefenbach: Ja, es gibt zwei Formen, in denen der Netzaktivismus gescheitert ist, und die zweite Form stellt auch heute noch eine offene Frage dar. Auf der einen Seite gab es ein Scheitern am eigenen Erfolg: Die hacktivistischen, subversions- und schwarmtheoretischen Praktiken und Narrative der Netzszene waren offen für eine Vereinnahmung durch das kapitalistische System. Als der Hype dann wirklich einsetzte, wurden die radikalen gesellschaftskritischen Ansätze verdrängt und viele Netzinitiativen haben sich in alternative, von den neuen Technologien getragene Wirtschaftsformen verwandelt. Auf der anderen Seite lässt sich das Scheitern aus einer zweiten Perspektive betrachten, nämlich der der Gewichtung von Praktiken und Theorien: Die poststrukturalistischen und operaistischen Denk- und Handlungsmodelle, die den Netzaktivismus beeinflussten, wurden zu sehr auf die Technologie selbst abgebildet. Man muss sehen, dass die Hypothese einer minoritären Politik, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus verhandeln, eine Reaktion auf die repräsentativen und autoritären Modelle der Politik in der Tradition der internationalen kommunistischen Bewegung darstellt. Dieser Hypothese ist aber selbst ein Kurzschluss eingeschrieben: Sie schwankt zwischen der Vorstellung, dass der Prozess des Werdens ohne jede Vermittlung radikale und anomale Widerstände ausdrückt, und der Forderung, die transversalen Verbindungen, die in diesem Prozess geschlossen werden, zu organisieren. Ich denke, dass die Distanz zwischen Werden und Organisation, Singularisierung und Stabilisierung nicht aufgelöst werden kann, sondern dass der politische Aktivismus vor der Frage steht, seine eigenen Wirkungen, seien sie disziplinierender und autoritärer Art, seien sie verteilender und auflösender Art, immer wieder unterbrechen muss. Das heißt, das Politische kann niemals auf ein Theorem und einen Praxistypus reduziert werden. Bezogen auf den Netzaktivismus bedeutet das, dass der Primat der Subversion und der Deterritorialisierung für eine politische Denk- und Handlungsstrategie nicht ausreichend war.
Warum war dieser Diskurs so reduktiv und konnte dann einfach kippen?
Katja Diefenbach: Zu einem bestimmten Zeitpunkt bekam man den Eindruck, dass das, worum da gestritten wurde, sich in der Asymmetrie der Kräfte selbst entschied. Am Anfang haben sich bestimmte Kräfteverhältnisse zugunsten des Netzaktivismus verdichtet, weil er die neuen technologischen Potenzen in Gebrauch nahm, weil er dissident war, weil er schick war und so für viele akademische, künstlerische und alternativökonomische Szenen anschlussfähig wurde; es gab also eine ganz eigene „heiße“ Situation Anfang der 1990er Jahre, die aus der Begegnung zwischen undogmatischer Linker, Theorieszene und Clubkultur hervorging, in der sich der Drang, neue Politik-, Denk- und Lebensformen zu erfinden, mit der Nutzung des Netzes verband. Das Thema, die Instanz und die Materialität der digitalen Medien waren vielleicht einfach nur das, was am Neuesten und daher am Sichtbarsten war, der Attraktor, um den sich dieses neue Kräfteverhältnis für kurze Zeit organisierte. Letztlich sind aber die subversiven Versprechen, die im Zusammenhang mit den neuen Technologien ausgegeben wurden, zerbrochen, während sich das Netzwerkmodell als Herrschaftsmodell durchsetzen konnte.
Content type | text
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Projects | Vergessene Zukunft - Radikale Netzkulturen in Europa World-Information Institute |
Date | 2012 |
Location | Vienna |