Hoffnung auf Kultur? Chancen und Risiken aktueller Bildungspolitik
1.Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, seit der Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses, seit dem 11. September 2001, dem Irakkrieg oder schon dem Bürgerkrieg im Kosovo, erstrahlt ein traditionelles Wort in neuem Glanz: das Zauberwort von der Kultur. Im Zeichen dieses Begriffs reüssieren Propheten, die nach wie vor den Clash of Civilizations erwarten; im Zeichen desselben Begriffs werden aber auch die Megatrends erfolgreicher Vermarktung kultureller Themen und Produkte diagnostiziert: von Ausstellungen bis zu Massenkonzerten, von Filmfestivals bis zu sportlichen Wettkämpfen, von Fernsehserien bis zu den Veranstaltungsprogrammen europäischer Kulturhauptstädte. Das Zauberwort »Kultur« kann zur Beschreibung politischer, ökonomischer, technologischer oder gesellschaftlicher Trends verwendet werden; nicht umsonst reüssiert Kultur als Partikel zahlreicher Neologismen: Multikulturalismus, Jugendkultur, Gesprächskultur, Kulturlandschaft, Unternehmenskultur, Populärkultur, Kulturdenkmal, Wohnkultur, Subkultur, Kulturpolitik, Streitkultur, Kulturschock, Frei¬zeitkultur, Wissenschaftskultur, Kulturmanagement. »Kultur« ist gleichsam zu jenem begrifflichen Dachstuhl avanciert, der es erlaubt, Ereignisse wie einen Auftritt von Anna Netrebko, den Bürgerkrieg in Tschetschenien, das Finale der Fußballweltmeisterschaft, die Bestattungszeremonien für Johannes Paul II., das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, einen Atombombentest in Nordkorea oder die »Love-Parade« an einer einzigen, gemeinsamen Adresse zu versammeln. Dem Kulturbegriff scheint die Zukunft zu gehören, auch wenn die Euphorie der Proklamation umfassender Erneuerung der Geisteswissenschaften oder das Pathos der Gründung kulturwissenschaftlicher Studiengänge bereits abgeklungen ist.
Nach wie vor ist nämlich zweifelhaft geblieben, ob »Kultur« tatsächlich als Leitbegriff gesellschaftlicher Hoffnungen etabliert werden kann; fraglich bleibt, kurz gesagt, ob Kultur sich überhaupt auf Zukunft reimt. Das Zauberwort Kultur hat zwar die Nachfolge der großen Aufklärungsbegriffe – wie Geist, Vernunft, Geschichte, Freiheit oder Gesellschaft – angetreten; seine Faszinationspotentiale verdankt es aber womöglich einer Reihe von ideenpolitischen Zweideutigkeiten. Als Kultur wird bezeichnet, was die Menschen (in Bearbeitung und Überwindung der Natur) selbst hervorgebracht und erzeugt haben, als Kultur wird aber auch bezeichnet, was den Individuen als eine nicht freiwillig gewählte, sondern historische, geographische, sprachliche, politische oder religiöse Voraussetzung auferlegt wird. Kultur kann als Entwicklungsideal wie als Entwicklungsballast betrachtet werden. Nicht zufällig artikulieren zeitgenössische Kulturbegriffe einerseits den strategischen Fatalismus, wie ihn manche Kritiker trans-nationaler Integrationsprozesse vertreten, andererseits den Pseudo-Humanismus jener Partisanen des Fortschritts, die nach der historischen Niederlage des Sozialismus auf die pädagogisch-normativen Effekte des Markts und eines erneuerten Kapitalismus setzen. Kultur gerät somit einerseits zum Synonym für alles, was man hat, ohne es loswerden zu können (Sprache, Religion, Architektur, Geschichte, Kunst, Staat, Feste, Umgangsformen, Nahrungs- und Lebensgewohnheiten), andererseits zum Synonym für alles, was man noch nicht hat, aber im höheren Auftrag der Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts anstreben und erwerben sollte (Mehrsprachigkeit, Mobilität, soziale Kompetenz, permanente Bildungsbereitschaft, eine liberale, tolerante Haltung, im Verein mit einer antitotalitären Gesinnung, sowie sexuelle, ethnische, politische oder berufliche Flexibilität). Das Zauberwort Kultur ermöglicht und unterstützt einerseits die Nachlassverwaltung der klassischen Utopien, fungiert andererseits jedoch als ein neutralisierender Resignationsbegriff, der selbst mörderische Bürgerkriege zu unvermeidlichen Effekten historisch gewachsener, gleichsam zu zweiter Natur geronnener Mentalitäten erklärt.
Kulturpolitik bleibt demnach ein paradoxes Unternehmen. Die temporale Zweideutigkeit von Kultur als Schicksal oder geschichtlicher Richtung perpetuiert sich in der Konfrontation politischer Optionen. Dabei scheint den Anhängern einer Erziehung des Menschengeschlechts die Zukunft verlorenzugehen, während den Anhängern der Predigt einer ewigen Wiederkehr des Gleichen komplementär die Vergangenheit zu entschwinden droht. Die Orientierung an aufklärerischer Fortschrittsprogrammatik zwingt ja gegenwärtig nicht zum Blick nach vorn, sondern vielmehr zu einem besorgten, latent pessimistischen Blick nach rückwärts, der unter Kategorien wie »Postmoderne«, »Ende der Geschichte« oder »Utopieverlust« abgehandelt wird. Die skeptische Kommentierung möglicher Untergänge des Abendlandes blickt dagegen nicht nach rückwärts, um kulturelle Formationsbildungen und Parameter differenziert analysieren zu können, sondern lässt sich von grob skizzierten Zukunftsszenarien in Bann schlagen, die unter Titeln wie »Krieg der Kulturen«, »Klimakatastrophe« oder »demographischer Wandel« verbreitet werden. Daraus ergibt sich ein seltsames Dilemma: Die ehemals »progressiv« genannten Fraktionen verstricken sich in Kulturpessimismus und Apokalyptik, während die ehemals »konservativ« charakterisierten Positionen zu energischen Durchhalteparolen auf dem Marsch in eine mehr oder weniger unsicher glänzende Zukunft aufrufen. Auffällig bleibt, dass ein zornig-melancholischer Pessimismus die Ausdrucksformen linker und rechter Kulturkritik nicht mehr trennt, sondern geradezu vereint. Aktuelle Kulturbegriffe wirken häufig nostalgisch, gleichgültig, ob sie nach vorne oder nach hinten blicken, ob sie sich auf künftige Kriege oder antike Tragödien, auf die Romantik des einfachen Lebens oder gar auf Heimat und Brauchtum berufen. Sie scheinen zurückzuschauen: darin gleichen sie jenem Nachtvogel, von dem Hegel in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie sagte: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«1
Auch für das Zauberwort Kultur gilt womöglich, dass es in historischer Abenddämmerung – und nicht in der Morgendämmerung – zum Gleitflug ansetzt. Die ubiquitäre Rede von Kultur erscheint in dieser Hinsicht als ein Fin de siècle-Symptom; darin bleibt sie jenem Avantgardismus treu, der sich stets an den nachrückenden Truppen orientierte, und nicht an den Bewohnern der neu eroberten Gebiete. Kein Futurismus ohne Historismus! Bis heute gilt: Wer ernsthaft versucht, eine gültige Voraussage kultureller Zukunft zu formulieren, blickt in die jüngere Vergangenheit. »Die Achtzigerjahre werden wieder aktuell«, heißt es dann, oder: »Angesagt ist eine Wiederkehr der neuen Sachlichkeit«. Abstraktion, Romantik, Phantastik, Spiritualität oder minimalistische Strenge, arte povera oder concept art, können vor allem deshalb postuliert werden, weil sie bereits einmal als Stilprinzipien etabliert waren. Auf Hochzeiten des Konstruktivismus folgt ein expressionistischer Boom (und umgekehrt): als wäre das emphatisch gesuchte Neue allemal das zyklisch wiederkehrende Alte. Kulturelle Innovation entspringt nicht selten dem Geist der Nostalgie. Auf die Moderne folgte die Postmoderne, und auf die Postmoderne eine Zweite Moderne, wie der Architekturhistoriker Heinrich Klotz oder der Soziologe Ulrich Beck behaupteten. Zwar wurde schon in der Renaissance die Antike »entdeckt« (und in der Romantik das Mittelalter – wenngleich vorzugsweise in Gestalt der Gothic Novels): Doch die zeitliche Verdichtung der stilbildenden Retrospektiven hat sich inzwischen enorm erhöht. Nach einer Epochenrechnung von Hans Robert Jauss wurden zwischen 1960 und 1970 zehnmal so viele neue Kunstrichtungen propagiert wie zwischen 1850 und 1900:
Aber die meisten »Umstürze« – vom Wiener Aktionismus bis zu den »Neuen Wilden« – wirkten wie »Umbauten«; sie glichen eher einer Reanimations- als einer Revolutionsbewegung. Daher bleibt zweifelhaft, ob und in welchem Maße ein Kulturbegriff als Leitmetapher gesellschaftlicher Hoffnungen und Wunschträume etabliert werden kann. Woran glaubt, wer an Kultur glaubt? Was ersehnt jemand, der sich nach Kultur sehnt? Wofür stirbt jemand, der für Kultur stirbt? Wer die großen Versprechungen der Gattungsgeschichte erinnert – das Versprechen der Gerechtigkeit, der Erkenntnis, der Freiheit, des Glücks, des guten Lebens – wird das Versprechen der Kultur für einen schwachen Trost halten. Die Kultur erscheint in solcher Perspektive als Resignationsbegriff: als historistische Restutopie, in deren Namen der Abschied von großen Wünschen und Hoffnungen moderiert werden soll. Zu Recht behauptete Freud in seiner Schrift vom Unbehagen in der Kultur, das »enthusiastische Vorurteil«, unsere »Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen und erwerben können und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit führen«, provoziere geradezu eine misstrauische Kritik, die betont, »wenn man die Ziele der Kulturstrebung und die Mittel, deren sie sich bedient, ins Auge fasst, müsse man zu dem Schlusse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der Einzelne unerträglich finden muss.«2
2. Freuds These von 1930 besagte: Kultur ist der Inbegriff moderner Allmachtsphantasien – und zugleich das Programm einer bemerkenswerten Ernüchterung. Einerseits klinge es »nicht nur wie ein Märchen«, es sei »direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt« habe und als »Kulturerwerb ansprechen« könne, andererseits dürfe auch angesichts der Erwartung »unvorstellbar großer Fortschritte« auf allen Gebieten der Kultur nicht vergessen werden, dass schon »der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt«.3 Anders gesagt: Wer von Kultur spricht, erin¬nert an den Zauber von Werten, die er im selben Moment re-lativistisch bricht. »Gottähnlichkeit«, darin bestand die Prämie des Sündenfalls. Die Rede von Kultur erinnert an die Macht von Göttern, Königen, Kultstätten oder wenigstens Idealen, für die es sich lohnte, zu leben und zu sterben; aber diese Erinnerung zerstört zugleich den magischen Bannkreis, indem sie strukturell vergleicht und systematisch historisiert. Kurzum, Kulturbegriffe fungieren als Zauberworte, sofern sie zur Entzauberung beitra-gen können – nämlich zu einer markanten Steigerung von Reflexivität und Flexibilität. Auch darum assoziiert sich das Wort Kultur schnell mit Pessimismus und Gegenwartskritik: Kulturanalysen wirken wie Medikamente zur Unterstützung eines Drogenentzugs, gleichsam als begriffliche Methadon-Gaben. Wer den Effekt der eigentlichen Droge (den Rausch der Religionen, Ideologien oder imperialen Grandiositätsphantasien) vermisst, perzipiert die Berufung auf Kultur als schwachen Trost, als Resthoffnung nach dem Bankrott großer Hoffnungen, als kleinsten gemeinsamen Nenner sämtlicher Weltanschauungen, die als Kompensationen angeboten und konsumiert werden können. Kultur reüssiert dann als das Zauberwort, das den Zauber zugleich aufhebt und wider Willen nochmals stimuliert – woraus sich immerhin ableiten lässt, warum Kulturtheorien so rasch zu polemischer oder nostalgischer Argumentation verführen.
Denn die aktuellen Hoffnungen auf Kultur träumen ja keineswegs von einem neo-humanistischen Zeitalter, in dem die Paradoxien der Moderne in postmillenarische Euphorie aufgelöst werden können; sie träumen – auch in ästhetischer Hinsicht – nicht von einem Neo-Avantgardismus, der die Paradoxien zyklischer Trends und Moden vorantreibt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit zeitgenössischer Kulturpolitik reüssieren vielmehr sozial-und beschäftigungspolitische Argumente, identitätspolitische Strategien, ökonomische und technologische Zwänge. Kultur ist ein Zauberwort, das nicht die Sinne für den Sinn schärfen soll, sondern ganz pragmatisch Problemlösungen verspricht. An erster Stelle nenne ich dabei den Wandel ökonomischer Strukturen. In Zusammenhang mit der globalen Ausbreitung eines »Kapitalismus ohne Arbeit« (Ulrich Beck4) wird die Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, einschließlich ihrer konstitutiven Mythen, Identitätsbildungstechniken und Legitimationsstrategien zunehmend verschwinden. Vielleicht wird Arbeit im 21. Jahrhundert als Privileg erscheinen, und die Muße als – potentiell gefährliche, latent antidemokratisch aufgeladene – Untätigkeit. Die Aufrechterhaltung oder gar ein weiterer Ausbau des Sozialstaats wird vermutlich ebenso scheitern wie eine dauerhafte Etablierung elitärer Drittel-Gesellschaften. In dieser Situation droht die »Brasilianisierung Europas«.5
Gegen eine solche Entwicklung könnte eine Version der Einführung von Grundrenten schützen, die der Bevölkerung nicht als (ohnehin fragwürdiges) Unterhaltsversprechen, sondern gleichsam als »Kreativitätsprämie« für die »Erfindung« neuer Arbeiten (sei es im tertiären Sektor, im kulturellen oder sozialen Bereich, in Non-Profit-Organisationen) gewährt wird. Allerdings würde ein solcher Übergang einen weitreichenden kulturellen Paradigmenwechsel voraussetzen und erzwingen, der dem Wertewandel zu Beginn des Industrialisierungsprozesses entspricht. Die kulturell geprägte Figur des Arbeiters (wie sie noch Ernst Jünger entworfen hat) würde ebenso unverhofft verschwinden wie die traditionelle Gestalt des Bauern, des Kriegers oder des Angestellten; die Maschinenvisionen Fritz Langs im Film Metropolis (von 1926) wirken inzwischen ähnlich anachronistisch wie die biblischen Mythen von der Plackerei auf den Feldern. Zugleich wird sich in steigendem Maße die Notwendigkeit aufdrängen, die Differenzen von freier Zeit und Arbeitszeit, die Erfahrungsmuster von Beruf und Arbeitslosigkeit, die Rollenbilder und Funktionen der Geschlechter, die territorialen Ordnungen von öffentlichen Räumen und privaten Orten, neu zu bestimmen und – mit Hilfe innovativer Phantasien, Vorstellungen und Kategorien – zu begreifen. Kultur wird somit nicht nur als eigenes Feld möglicher neuer Berufe – im Museums- und Ausstellungsgewerbe, im Verlagswesen, in den Medien – definiert, sondern darüber hinaus als Titel einer fälligen Neuorientierung von Arbeitsmärkten und deren symbolischer Bewertung. Wer heute von Dienstleistungs-, Risiko- oder Transformationsgesellschaften spricht, benennt im Grunde nichts anderes als die Brücken zu einer künftigen Welt, in der vorwiegend keine Berufe mehr ausgeübt, sondern Jobs erledigt werden, in der keine linearen, monosequenziellen Karrieren, sondern polysequenzielle, experimentelle Arbeitsbiographien verfolgt werden: einer Welt, in der keine singulären Lebensziele angestrebt, sondern gleichsam Cluster von verschiedenen Interessen und Zwecken verwirklicht werden können.
Ein weiterer Inhalt konkreter und pragmatischer Ansprüche an einen zeitgemäßen Kulturbegriff entspringt der offensiven, beschleunigten Auflösung nationalstaatlicher Strukturen. Der 1996 verstorbene Sozialanthropologe Ernest Gellner behauptete in seiner 1983 publizierten Studie über Nationalismus und Moderne, Kultur sei ein Begriff, der erst im Zuge des Industrialisierungsprozesses zur Geltung kommen konnte: nämlich in Gestalt der gleichermaßen nationalistischen wie aufklärerischen Forderung nach einer Identität von Staat (als Territorium) und Kultur (als Sprache, Religion und Geschichte). Seine provokante These, der Nationalismus bilde die Religion der Industriegesellschaft (und zwar im Sinne des Religionsbegriffs von Émile Durkheim6) ließe sich leicht verschärfen: Kultur wäre demnach ein Schlüsselbegriff für die Ideale nationalstaatlicher Homogenisierung – und also nichts anderes als ein Titel für die progressive Aufweichung und Integration jener Binnendifferenzierungen, die noch von jeder Agrargesellschaft übertrieben und radikalisiert wurden. Aus dieser These lässt sich ableiten, was als ideenpolitische Zweideutigkeit des Kulturbegriffs charakterisiert wurde: die Ambivalenz von Schicksal und Geschichtsziel, von Trauer und Triumph. Denn spätestens seit der Französischen Revolution wurde Kultur als Utopie einer noch nicht erreichten nationalstaatlichen Einigung ebenso normativ proklamiert wie als ursprungsmythologisch verhängtes Geschick gefeiert, als Auftrag vergangener Generationen und verstorbener Ahnen. Multikulturalismus ist und war darum kein Sonderfall der Geschichte; vielmehr empfiehlt jeder Kulturbegriff an sich die Assoziation und Verschmelzung unterschiedlicher Identitäten. Kulturen sind per definitionem synkretistisch, sobald sie sich als Kulturen bezeichnen. »Synkretismus« ist aber nicht nur eine Leitkategorie der Religionsanthropologie oder der Kulturwissenschaft, sondern – natürlich – auch der modernen Ästhetik.
Im selben Sinne, in dem die Berufung auf Kultur die Bildung nationalstaatlicher Einheiten ermöglichte und unterstützte, wird dem Begriff nun neuerdings zugemutet, die Entwicklung und Ausprägung transnationaler Systeme, ja gar die Entstehung einer Weltgesellschaft mitzutragen und zu moderieren. Dabei fällt freilich auf, dass die Bilder, Symbole und Pathosformeln der Nation bisher nur unzureichend substituiert werden konnten: Die Rhetorik von »Risiko« oder »Dienstleistung«, von »Finanzströmen« oder »klimapolitischen Allianzen« wirkt nicht weniger unbefriedigend als die Rede vom »Raumschiff Erde« oder vom »blauen Planeten«, den wir rundum – nämlich global – be-wohnen und steuern. Wer an Kultur als nationales Symbolkapital denkt, assoziiert erhabene Denkmäler, Festtage, Hymnen, Fahnen, Ansprachen, Romane, Opern, Akademien, politische, wissenschaftliche, sportliche oder künstlerische Prominenz. Wer an Kultur als globales Symbolkapital denkt, assoziiert ebenso unwillkürlich McDonalds, Coca Cola und die United Colors of Benetton. Die Differenz zwischen beiden Vorstellungswelten lässt sich mühelos am Unterschied zwischen einer Fußballweltmeisterschaft und der europäischen Champions League vergegenwärtigen. Während erfolgreiche Klubmannschaften als sportliche Verkörperungen von Firmen erscheinen, die in einem transnationalen Wettbewerb von Markenzeichen operieren, kann eine Europa- oder Weltmeisterschaft durchaus als Spektakel der Renationalisierung fungieren. Die Frage, die sich anlässlich solcher Wettbewerbe aufwirft, lautet grundsätzlich: Wie kann Weltkultur neu inszeniert und aufgeführt werden? Auf welche symbolischen Ressourcen kann sich die Repräsentation von Weltkultur stützen? Können die nationalen Pathosformeln tatsächlich durch Pathosformeln der Globalisierung – etwa unter Berufung auf die Horizonte neuer Kommunikations- und Medientechnologie – ersetzt werden?
Das Versprechen der neuen Medien galt einer innovativen Einheit von Weltkultur und Technologie. Kulturen sollten neu definiert werden, und zwar im Sinne der Gleichung: Kultur ist gleich Nest plus Netz, Kommunitarismus mit ISDN-Anschluss. Eine dritte pragmatisch-konkrete Hoffnung auf Kultur (nach der Hoffnung auf Kultur als Medium des Wandels von Arbeitsgesellschaften, und nach der Hoffnung auf Kultur als identitätspolitischer Moderatorin einer Weltgesellschaft) betraf die technologischen Entwicklungen. Offenbar erschien die Allianz zwischen Kultur und Technik als ein verlässliches Bündnis. Immerhin hatten die künstlerischen Avantgarden der Moderne (schon vor Marinetti) die Nähe zu den Ingenieuren gesucht; immerhin hatten künstlerische Innovationen so häufig von technischen Erfindungen profitiert, dass sich die neuere Kunstgeschichte durchaus mit der Technik- und Wissenschaftsgeschichte kurzschließen lässt. Inzwischen haben die Beziehungen zwischen Kunst, Technik und Wissenschaft jedoch eine kompliziertere Gestalt angenommen. Zwar profitieren künstlerische Innovationen und Trends – vor allem im Bereich der neuen Medien – nach wie vor von technischen Erfindungen und maschinellen Evolutionen; aber sie demonstrieren (spätestens seit Joseph Beuys) auch Skepsis und polemische Distanz gegenüber dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Obendrein erzeugt die technologische Entwicklung einen spezifischen Visualisierungsbedarf, den Wunsch nach sinnlicher Vergegenwärtigung abstrakter Konstruktionen und Systeme; dieser Wunsch kann aber von den Künsten – bisher häufig genug Trittbrettfahrer der Technik – nicht mehr erfüllt werden. Künstlerische Kommentare zur Informations-, Medien- oder Biotechnologie fallen daher immer kritischer, polemischer, skeptischer aus, was sich nicht allein auf die riskanten Experimente der Ingenieure und Wissenschaftler zurückführen lässt, sondern eben auch auf einen zunehmenden Abstand, eine diskursive Krise zwischen den Künsten, den Wissenschaften und den technischen Disziplinen. Erst langsam reift die Einsicht, dass Kultur nicht nur als Propagandistin technischer Fortschritte gefördert werden müsste, sondern auch als deren kritische Reflexionsinstanz. Zu Recht erinnert Dirk Baecker an die romantische Ironie und Ästhetik: als Technologie intersubjektiver Verständigung.7
3. Was bisher formuliert wurde, sollte die Hoffnung auf Kultur weder völlig entkräften, noch enthusiastisch legitimieren. Die Hoffnung auf Kultur lässt sich nur schwer erfüllen; doch lässt sie sich ebenso schwer abweisen und von vornherein als unsinnige Erwartung kritisieren. An einem konkreten Beispiel der Hochschulpolitik gesagt: Die beschleunigte Einrichtung neuer Kulturstudiengänge – ohne strukturelle Innovation – ist vermutlich ebenso zwecklos wie die verbreitete Konversion pessimistischer Kulturkritik in die Kritik an Kulturindustrie, Kulturförderung oder Kulturwissenschaft. Unverzichtbar sind dagegen bildungspolitische Experimente und deren differenzierte Evaluation. Solche Experimente können von zwei evidenten Voraussetzungen ausgehen: erstens von der Voraussetzung einer historisch gewachsenen Entfernung zwischen den Künsten, den technischen Disziplinen und den Kulturwissenschaften, zweitens von der Voraussetzung einer sachlich begründbaren Nähe ihrer Gegenstände, Medien und Methoden. Diese These lässt sich rechtfertigen nicht nur im Blick auf gemeinsame Ursprünge der Künste und Wissenschaften in der Renaissance, sondern auch hinsichtlich einer gemeinsamen Zukunft im Zeitalter der neuen Medien. In diesem Zeitalter werden Künste, Wissenschaften und Techniken in bisher nicht gekanntem Maße ihre Werkzeuge teilen, und somit fortführen, was spätestens seit den ästhetischen Avantgarden des 19. Jahrhunderts gegolten hat: die Anerkennung der Technik als gemeinsames Bezugssystem. Seit damals transzendiert der Fragehorizont von Künsten und Wissenschaften die reine Beschreibung oder Erklärung von Gegenständen (im Sinne von Substanzbegriffen), um zur Erforschung ihrer Produktions- und Anwendungsbedingungen (im Sinne von Funktionsbegriffen) fortzuschreiten. Darum können die neuzeitlichen Künste auch diskursive (und nicht bloß epiphanische) Erkenntnisse generieren; als Techniken basieren sie nicht länger nur auf einem bestimmten handwerklichen Können, sondern darüber hinaus auf dem historischen Wissen von vergangenen Epochen, theoretischen Reflexionshorizonten und aktuellen Entwicklungsperspektiven. Neue Kunst ist intellektuelle Arbeit. Mit Cioran gesagt: »Die Moderne par excellence ist durch das Auftreten des intelligenten Künstlers gekennzeichnet.«8 Und mit André Malraux: »Unsere Beziehung zur Kunst ist seit mehr als hundert Jahren immer intellektueller geworden.«9 Die meisten paradigmatischen Strömungen des 20. Jahrhunderts haben zugleich in den Künsten und in den Wissenschaften reüssiert: Expressionismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Minimalismus, Strukturalismus, Postmodernismus. Ästhetische Verfahren haben die Wissenschaften inspiriert, und wissenschaftliche Debatten die Künste.
Umgekehrt wird auch an die wissenschaftlichen Ausbildungseinrichtungen zunehmend die Forderung erhoben, nicht bloß theoretische Wissensinhalte zu vermitteln, sondern – im Blick auf veränderte Berufsanforderungen und Tätigkeitsprofile – auch einen neuen Typus technisch-reflexiver Intelligenz. Die sachlich-strategische, noch zu wenig institutionalisierte Annäherung zwischen Künsten, Techniken und Wissenschaften hat sich im Zeichen des Abschieds von großen Wahrheiten und metaphysischen Fragen ohnehin längst vollzogen; wer absolute Wahrheiten und Letztbegründungen sucht, muss an die Religionen (und an bestimmte Adressen der Philosophie) verwiesen werden. Künste, Techniken und Wissenschaften befassen sich mit vorläufigen Antworten, die empirisch oder logisch falsifiziert, aber auch ästhetisch kritisiert werden können. Zu Recht behauptete Paul Valéry: »Wissenschaft und Kunst, diese Ausdrücke sind simpel, ihr Gegensatz ist undurchdacht. In Wahrheit lassen sie sich nicht trennen. Und prüfst du näher, was die Einzelnen tun, so stellst du fest, dass sie stets ein und dasselbe Ziel anstreben, nur mit zweierlei Verfahren.«10 Und Paul Feyerabend ergänzte mit provokanter Zuspitzung: »Objektivität ist ein Stilmerkmal (man vergleiche etwa den Pointillismus mit dem Realismus oder dem Naturalismus). Man entscheidet sich also für oder gegen die Wissenschaften genauso, wie man sich für oder gegen Punkrock entscheidet, mit dem Unterschied allerdings, dass die gegenwärtige soziale Einbettung der Wissenschaften die Entscheidung im ersten Fall mit viel mehr Gerede und auch sonst mit viel größerem Lärm umgibt. Und da man bisher glaubte, dass sich nur die Künste in dieser Lage befinden, da man also die Situation bisher nur in den Künsten einigermaßen erkannt hat, so beschreibt man die analoge Situation in den Wissenschaften […] am besten, indem man sagt, dass die Wissenschaften Künste sind im Sinne dieses fortschrittlichen Kunstverständnisses.«11
Mit solchen amüsanten Handstreichen ist freilich wenig gewonnen: Umbenennungen allein ermöglichen keine strukturelle Innovation. Auch unterschätzt die Erkenntnis sachlicher Zusammenhänge die institutionell gewachsenen Differenzen (nicht nur zwischen Wissenschaft und Punk). Immer noch sind manche Kunstakademien auf die Ausbildung von Ausnahmeartisten fixiert, und zwar ganz im Sinne jener Dogmatik der »Geniereligion«, die der spätere Wissenschaftshistoriker Edgar Zilsel bereits im Jahr 1918 so trefflich porträtierte. Immer noch konzentrieren sich manche Universitätsinstitute auf die Schulung von Spezialisten, die bei immer größerer Verengung ihrer Forschungsgebiete immer präzisere Problemstellungen zu lösen versuchen. Dagegen ist in den meisten Fällen auch gar nichts einzuwendenden; aber vielleicht muss eine bildungspolitische Differenzierung gefordert werden, eine Differenzierung zwischen kanonisierten Spezialwissenschaften und experimentellen Disziplinen, die in einzelnen Fällen nur für eine bestimmte Zeitspanne eingerichtet werden müssten. Es ist ja nicht unwahrscheinlich, dass im Zuge folgenreicher Veränderungen von Arbeitswelten, politischen Systemen und technischen Organisationsformen auch die Institutionalisierung der Wissensvermittlung unter verschärften Innovationsdruck geraten wird; dann erhöht sich das Risiko, dass die schnellen und umfassenden Generallösungen aus der Schublade gezaubert werden, ohne wirklich erprobt worden zu sein. Der gebannte Blick auf diese möglichen dramatischen Entwicklungen, die sich bereits mit der Durchsetzung des Bologna-Prozesses oder mit der bundesdeutschen Exzellenzinitiative anzukündigen schienen, verhindert nicht selten die Wahrnehmung tatsächlicher Spielräume für Experimente und innovative Gestaltung.
Eine kreative, nicht melancholisch-defensive Bildungspolitik müsste versuchen, experimentelle Strukturen zu fördern; sie würde Autonomie nicht vordergründig in Verwaltung und Interessenvertretung bewahren, sondern auch in der Gestaltung neuer Organisationsformen der Wissenschaften, Techniken und Künste. Darin bleibt sie auch nach zweihundert Jahren den Visionen Wilhelm von Humboldts verpflichtet, der nichts anderes wollte als Bildungsinstitute, Universitäten oder Akademien, denen es gelingt, ihre »Thätigkeit immer in der regsten und stärksten Lebendigkeit zu erhalten«.12
Anmerkungen
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werkausgabe. Band VII. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Seite 28.
2 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Studienausgabe. Band IX. Frankfurt am Main: S. Fischer 1974. Seite 269.
3 Ebda. Seite 222.
4 Vgl. Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Seite 105–114.
5 Ebda. Seite 266–268.
6 Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch-Ver¬lag 1991. Seite 90.
7 Vgl. Dirk Baecker: Poker im Osten. Probleme der Transformationsge¬sellschaft. Berlin: Merve 1998. Seite 142–144.
8 Émile M. Cioran: Dasein als Versuchung. Stuttgart: Klett-Cotta 1983. Seite 147.
9 André Malraux: Das imaginäre Museum. Psychologie der Kunst I. Rein¬bek bei Hamburg: Rowohlt 1957. Seite 9.
10 Paul Valéry: Cahiers – Hefte. Band VI. Frankfurt am Main: S. Fischer 1993. Seite 25.
11 Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt am Main: Suhr¬kamp 1984. Seite 78.
12 Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin [1810]. In: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Werke. Band IV. Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft 1964. Seite 256.
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Date | November 2011 |