Post-Politik? Nein, danke!
In manchen privilegierten Segmenten des Nordens und Westens hat eine bemerkenswerte Konvergenz politischer Ideale stattgefunden. Linke MedienaktivistInnen drängen auf eine Erweiterung des Zugangs zu kommunikativen Netzwerken, während die Unterhaltungs- und Überwachungsbranchen die Anzahl und Reichweite ihrer in die Privatsphäre eindringenden Apparate steigern. NetzwerkaktivistInnen setzen sich für freie Information, freie Software, freie kulturelle Produkte und freie Arbeit ein, während die neoliberale Wirtschaft uns mit epischer Arbeitslosigkeit und Gehaltskürzungen glücklich zu Diensten ist. Multikulturelle AktivistInnen predigen Toleranz und Diversität, während das globale Kapital sich immer mehr Domänen einverleibt. Irgendwie scheint es, als würden wir bekommen, was wir wollen – und genau darin liegt das Problem.
Wenn das Gegenüber die eigene Position übernimmt, wird man mit deren Realisierung und ihren Auswirkungen konfrontiert. Das ist es, was viele von uns nicht mögen, das ist es, was viele zu vermeiden versuchen. Deshalb sagen wir: »Nein, das ist es nicht!«. Unsere Sprache und Ideale werden feindlich übernommen. Deshalb verlieren wir die Möglichkeit zu sagen, was wir wollen, ja sogar zu wissen, was wir wollen. Wir können nicht einmal mehr etwas Anderes träumen. Slavoj Žižek schreibt: »In einer radikalen Revolution müssen Menschen nicht nur ‚ihre alten (emanzipatorischen, etc.) Träume‘ verwirklichen; sie müssen vielmehr die Art ihres Träumens neu erfinden.«1 Eine solche Neuerfindung ist eine enorme, vielleicht unmögliche Aufgabe. Die Diagnose der »Entpolitisierung« ist hier jedoch nicht förderlich. Falls »Entpolitisierung« überhaupt eine Bedeutung hat, was zu hinterfragen ist, dann ist es wohl der Rückzug in die Feigheit, die rückwirkende Festlegung des Sieges als Niederlage, weil die Linke die schwierige Aufgabe verabsäumt, die Art und Weise des Träumens neu zu erfinden. »Entpolitisierung« ist eine Phantasie, eine Entschuldigung, ein Deckmantel, ein Fetisch oder Symptom, mit dem die Linke sagt: »Wir wissen, dass kollektives Handeln theoretisch möglich ist, aber wir glauben nicht daran, dass es uns gibt.« Das Wort »Entpolitisierung« bezeichnet also eigentlich die Kluft zwischen den theoretischen Bekenntnissen zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen systemische Probleme, die in den letzten zwei Jahrhunderten konstitutiv waren: einerseits für linkes Denken und andererseits für den isolierenden Individualismus des kommunikativen Kapitalismus im Neoliberalismus.2 Genau diese Diagnose der Entpolitisierung wirkt als Fetisch, um die Linke davon abzuhalten, die Echtheit ihres Sieges anzuerkennen.
Die Interpretation der Entpolitisierung als Rechtfertigung oder als Fetisch, der das Versagen von Verantwortlichkeit überdecken soll, wird jedoch nicht weithin geteilt. Ganz im Gegenteil: Entpolitisierung und die damit zusammenhängenden Vorstellungen von Post-Politik, Ent-Demokratisierung und Post-Demokratie werden derzeit als Termini angeboten, die aufzeigen sollen, was spezifisch neu ist in den gegenwärtigen politisch-ökonomischen Bedingungen. Im letzten Jahrzehnt haben verschiedene politische TheoretikerInnen versucht, die derzeitigen Gegebenheiten als post-politisch oder post-demokratisch zu analysieren.3 Durch das Umdrehen von Begriffen, die von Denkern des Neokonservativismus wie Francis Fukuyama und jenen des »Dritten Weges« wie Anthony Giddens geschaffen wurden, die ein »Ende der Ideologie« prophezeiten, beschreiben sie auf kritische Weise die Orientierung hin zu Konsens, Verwaltung und Technokratie, die als Vorteil nach dem Kalten Krieg gepriesen wurde. Mehrere Aspekte dieser Neubeschreibung stechen hervor, und zwar die Vorherrschaft der Wirtschaft, das Individuum und die Polizei.
Die derzeitigen Verhältnisse sind post-politisch, so wird argumentiert, weil die rasante Verbreitung und Intensivierung der neoliberalen Wirtschaftspolitik die einzelnen Staaten den Forderungen von Konzernen und der scheinbar unausweichlichen Logik des Markts unterwerfen. Politik wird in dem Ausmaß zunehmend unwichtig, in dem staatliche Autorität immer weniger die Macht der Großunternehmen zu kontrollieren vermag. Diese Unfähigkeit der demokratischen Politik, greifbare Lösungen für soziale und wirtschaftliche Probleme anzubieten, schwingt auch im Zelebrieren des Individuums im kommunikativen Kapitalismus mit. Die Individualisierung der Politik in kommodifizierbare »Lifestyles« und Meinungen erfasst Politik als Konsum: dass Konsumentscheidungen eine Politik haben – Fair Trade, grün, vegan, aus von Frauen geführten Betrieben stammend –, verwandelt sich in das Gefühl, Politik sei überhaupt nichts anderes als eine Konsumentscheidung, also eine individualisierte Antwort auf individualisierte Bedürfnisse. Zygmunt Bauman stellt diesen Punkt gut dar:
»Ein Individuum zu sein heißt de jure, dass man niemanden hat, den man für das eigene Elend verantwortlich machen kann, dass man die Gründe für das Versagen nur in der eigenen Trägheit und Nachlässigkeit suchen kann und man keine anderen Gegenmittel findet, als immer noch mehr und mehr zu versuchen… Wenn die Augen nur auf die eigene Leistung fokussiert und damit vom sozialen Raum abgewandt sind, wo die Widersprüche der individuellen Existenz kollektiv produziert werden, dann sind Männer und Frauen natürlich versucht, die Komplexität ihrer misslichen Lage zu reduzieren. Es ist nicht so, dass sie ‚biographische Lösungen‘ als beschwerlich und mühsam empfinden: es gibt ganz einfach keine ‚biographischen Lösungen für systemische Widersprüche‘, weswegen der Mangel an Lösungen, die sie zur Verfügung haben, durch eingebildete kompensiert werden muss. Daher auch die Nachfrage nach individuellen Haken, auf denen ängstliche Individuen ihre individuellen Ängste kollektiv aufhängen können, wenn auch nur für einen kurzen Moment.«4
Wenn Politik aber nur auf Konsumentscheidungen reduziert wird, dann schrumpft die öffentliche Hand in gleichem Maße und beschäftigt sich nur noch mit traumatisierten Opfern. Ihre Rolle ist es dann weniger, öffentliche Güter zu versichern und kollektive Probleme zu lösen, als die persönlichen Angelegenheiten der BürgerInnen anzusprechen. Dementsprechend beurteilen Meinungsforschungsinstitute mittlerweile individuelle Präferenz und Zufriedenheit, als ob die Befragten mit den politisierten BürgerInnen gleichzusetzen wären. Da die Wirtschaft schließlich nicht alleine alle Funktionen der Staatsgewalt übernehmen kann, drängt ein weiteres Element des Staates in den Vordergrund: Sicherheit. Daher wird der geminderte politische Einfluss auf wirtschaftliche und soziale Fragen von der Intensivierung und dem Ausbau des Staates als Überwachungs- und Kontrollinstanz begleitet.
Manche Aspekte der derzeitigen Umstände, die als »Entpolitisierung« diagnostiziert werden, verdienen allerdings Beachtung: die neoliberale kapitalistische Wirtschaft, das zerbrechliche, konsumierende Individuum und der überwachende, kontrollierende Staat. Trotzdem genügen Begriffe wie »Post-Politik«, »Entpolitisierung« und »Ent-Demokratisierung« nicht, um diese Verknüpfung theoretisch zu erfassen. Die Behauptung, dass Staaten wegen der Marktzwänge an Wichtigkeit und Einfluss verlieren, lässt Dollarbeträge in Millionenhöhe außer Acht, die regelmäßig für politische Kampagnen ausgegeben werden. Geschäfts- und Marktinteressen sowie die Eliten aus der Geschäfts- und Finanzwelt investieren viel Zeit und Geld in Wahlen, KandidatInnen, Lobbying und Gesetzgebung, um ein Klima zu erzeugen, in dem ihre Interessen gewahrt werden. Die Neoliberalen setzen genau da an: sie schlagen Kapital aus der linken Kritik an Regulierung und dem Rückzug des Staats und setzen staatliche Macht ein, um ihre Interessen zu erweitern. In gleicher Weise kämpfen Sozialkonservative hartnäckig über ein breites Spektrum politischer Fronten hinweg. Diese umfassen in den USA lokale SchulrätInnen, staatsweite Abstimmungsinitiativen, Ernennungen von RichterInnen und Initiativen zur Verfassungsänderung. Die linke Klage über Post-Politik übersieht nicht nur die Realität der Politik vor Ort, sondern gibt Schlüsselpositionen auf Terrains auf, auf denen Aktivismen ausgetragen werden und Auseinandersetzungen zu führen sind. Da aber niemand diese politisierten Schauplätze als solche wahrnimmt, tritt auch den konservativen Initiativen niemand mit einer schlüssigen Alternative entgegen.
Die Behauptungen über eine neue Ära der Post-Politik sind auf seltsame Art kindisch und trotzig. Die Linke nimmt an, dass das Fehlen guter politischer Ideen schon das Ende der Politik als solche bedeutet: »Wenn das Spiel nicht nach unseren Regeln gespielt wird, wollen wir gleich gar nicht mehr mitmachen. Am besten, wir erkennen gar nicht mehr an, dass überhaupt ein Spiel im Gange ist!« Insofern löscht dann natürlich die Behauptung einer Post-Politik auch die Grundlage für den eigenen Standpunkt der Systemkritik. Warum sollte man eine Formation als post-politisch kritisieren, wenn man selbst gar kein politisches Fundament dafür hat? Und wenn es dieses Fundament gibt, wie kann dann die Situation post-politisch sein? Falls man es hingegen nicht hat, was ist dann überhaupt der Sinn dieser Kritik, wenn nicht durch das Erzeugen von Aufmerksamkeit auf dieses Fehlen hinzuweisen ist?
Sich dieses Fehlen überhaupt vorzustellen, mag der wichtigste Beitrag der Entpolitisierungsrhetorik sein, um den die Linke sich kümmern sollte – und der Debatten unter politischen TheoretikerInnen wichtig macht, die innerhalb der Linken eine neue Art des Träumens erfinden wollen. Es macht also Sinn, diese Debatten im Detail zu beleuchten. Berichte über die Post-Politik tendieren dazu, zwischen zwei verschiedene Positionen zu rutschen: Post-Politik als Ideal des Konsens, der Inklusion und der Verwaltung, die abgelehnt werden muss; und Post-Politik als Beschreibung der derzeit stattfindenden Ausgrenzung und Abschottung des Politischen. Chantal Mouffe und Jacques Ranciere halten an Versionen der ersten Sichtweise fest, Žižek an der letzteren, und Wendy Brown spezifiziert diese Sichtweise am Punkt der Ent-Demokratisierung. Mouffe ist besonders überzeugend und präzise in ihrer Kritik der Politik des Dritten Weges, des Liberalismus eines John Rawls und der deliberativen Demokratie eines Jürgen Habermas. Sie argumentiert, dass diese Zugänge »das inhärent konfliktuelle Wesen des modernen Pluralismus verleugnen«, und schließt daraus, dass »sie nicht in der Lage sind anzuerkennen, dass das Ergebnis einer Überlegung immer aus einer Entscheidung resultiert, die andere Möglichkeiten ausschließt und für die man sich nie aus der Verantwortung ziehen können sollte, indem man sich auf Zwänge allgemeiner Regeln und Prinzipien beruft.«5 Ideale, die auf Konsens beruhen, erkennen nicht, dass Politik immer Uneinigkeit stiften muss. Eine Entscheidung für den einen Weg anstelle eines anderen schließt automatisch einige Möglichkeiten und Positionen aus. Ein Teil der Herausforderung von Politik ist die Fähigkeit, solche Ausgrenzungen zu verantworten.
Mouffes Argument gewinnt durch ihren umsichtigen Einsatz von Carl Schmitts Kritik des liberalen Parlamentarismus an Stärke. Schmitt schreibt, dass der Liberalismus versucht, der Opposition zwischen Freund und Feind, die allem Politischen zugrunde liegt, zu entkommen, und stattdessen versucht, »das Politische mit dem Ethischen zu verknüpfen und es der Wirtschaft zu unterjochen«.6 Das Politische kann jedoch nicht vermieden werden und alle Versuche, es durch intellektuelle Überlegungen aufzulösen oder es durch Konkurrenz auf dem Markt zu beseitigen, resultieren nur darin, dass die für das Politische charakteristische Intensität auf andere, möglicherweise gefährlichere Schauplätze übertragen wird. In Schmitts Worten »kann das Politische seine Energie aus höchst unterschiedlichen menschlichen Unternehmungen beziehen: aus Religion, Wirtschaft, Moral und anderen Antithesen. Es beschreibt nicht seine eigene Substanz, sondern nur die Intensität einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiös, national (in einem ethnischen oder kulturellen Sinn), wirtschaftlich oder aus anderen Gründen motiviert sind und die zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Koalitionen und Abspaltungen eingehen können«. (Hervorhebung der Autorin)7 Das Politische zeigt die Intensität einer Verbindung an: eine Intensität, die den für eine Gesellschaft konstitutiven Antagonismus charakterisiert, d.h. um den herum sich »Gesellschaft« überhaupt erst entwickelt.
Mouffes Betonung, dass Antagonismus und Trennung nicht vermeidbar sind, weist auf einen Schwachpunkt in Rancieres Diskussion der Post-Politik hin (und auch der Post-Demokratie, da für ihn Politik und Demokratie austauschbar sind). Ranciere ist mit den Methoden der zeitgenössischen Meinungsforschungspraktiken und dem Management der Vorlieben vertraut, die Communities voraussetzen, während sie politischen Konflikt und Widerspruch aussparen. Trotzdem tendiert er dazu, so zu schreiben, als wäre das Verschwinden der Politik möglich und die Evakuierung der Politik aus dem Sozialen ein Charakteristikum der derzeitigen Situation.8 So argumentiert er, dass heutzutage »die Identifizierung einer Demokratie mit einem legitimierten Staat dazu verwendet wird, um ein Regime des Selbstbilds einer Gemeinschaft zu erzeugen und um Politik unter einer Vorstellung von Recht, das mit dem Geist der Gemeinschaft identifiziert wird, verpuffen zu lassen.«9 Ranciere betont zu Recht, dass Annahmen von Demokratie und Legitimität zusammentreffen. Er hat jedoch dort Unrecht, wo er eine Reihe bestimmender Zuordnungen impliziert, die Politik in Recht verwandeln und Recht in vereinheitlichte Gemeinschaft. Das Rechtssystem ist der Schauplatz offen ausgetragenen politischen Konflikts, der sogar eine Fiktion der Gemeinschaft unterminiert; eines Konflikts, der die Verbindungen zwischen Macht und Privileg hervorhebt, die bereits jetzt (notwendigerweise) in Gesetzesform gegossen sind. Rancieres Behauptung, dass »der Staat sich heutzutage selbst legitimiert, indem er behauptet, dass Politik unmöglich ist«, überzeugt nicht, wenn man sich das Um¬feld der häufigen und vielfältigen Streitfragen in der und durch die Gesetzgebung ansieht.10
Žižeks Bericht einer Post-Politik erwächst aus seiner Lektüre von Ranciere.11 Daher oszilliert auch er zwischen Post-Po¬litik als dem riskanten Ideal hinter dem neoliberalen Dritten Weg, liberalem Multikulturalismus und dem therapeutischen Verwaltungsstaat und dem Post-Politischen als Beschreibung des heutigen liberal-demokratischen globalen kapitalistischen Regimes«.12 Obwohl Žižeks Position dort am schwächsten ist, wo er den Terminus »post-politisch« deskriptiv einsetzt, ist seine Erklärung trotzdem aufschlussreich: was die derzeitige Situation post-politisch macht, ist der Ausschluss der Möglichkeit der Politisierung. Žižeks Punkt ist hier, dass die Politisierung das Anheben des Einzelfalls auf das Niveau des Universellen beinhaltet. Ein spezifisches Verbrechen, Problem oder Ereignis steht dann für mehr als nur für sich selbst; es ist nicht nur ein Einzelfall, der gelöst werden muss. Stattdessen ist es eher ein Hinweis einer ganzen Reihe von Problemen, die das System in seiner Gesamtheit betreffen.13 Es ist der symptomatische Punkt des Antagonismus in jeder erdenklichen Konstellation. So ging es zum Beispiel der Bürgerrechtsbewegung in den USA nicht nur um die Schwierigkeiten des einzelnen. Sie war vielmehr eine Bewegung, die die grundlegenden sozialen Praktiken, Institutionen und Sichtbarkeitsregime verändern wollte, um Afro-AmerikanerInnen grundlegende Rechte als gleichwertige MitbürgerInnen zu garantieren. »Post-Politik tendiert genau dazu, diese metaphorische Universalisierung konkreter Bedürfnisse zu verhindern«, erklärt Žižek. »Post-Politik mobilisiert einen riesigen Apparat an Experten, Sozialarbeitern und so weiter, um das gesamte Begehren dieser Gruppe, diese umfassenden Klagen, auf nur dieses eine Bedürfnis mit seinem ganz konkreten Inhalt zu reduzieren.«14 Und trotzdem kommt Politisierung heute vor. Die Rechte gibt ein gutes Beispiel dafür, indem sie Liberale, Feministinnen, Homosexuelle, MigrantInnen, Flüchtlinge und PensionistInnen als symptomatisch für größere Vergehen darstellt: moderne Selbstsucht, Lüsternheit, Schwäche, Dekadenz, Faulheit und eine generell aufdringliche Andersartigkeit und Fremdheit.
Žižek schreibt zeitgenössische Post-Politik einer »Ent-Politisierung der Wirtschaft« zu, einer »allgemeinen Akzeptanz des Kapitals und der Marktmechanismen als neutrale Werkzeuge und Methoden, die es zu nützen gilt.«15 Wenn man dieses Argument als weite Beschreibung aktueller Politik sieht, ist es nicht überzeugend: Arbeitsplätze, Defizite, Überschüsse, Steuern, Inflation, Outsourcing, unausgeglichene Handelsbilanzen, Verbraucherausgaben, Schulden, Spekulationsblasen und Budgets sind Schlüsselbegriffe des politischen Lexikons. Die Wirtschaft erscheint mittlerweile als Schauplatz der Politik, als ihr Hauptanliegen. Žižeks Punkt sollte dann besser als Kritik an der Linken gelesen werden – das wirklich politische Problem heutzutage ist, dass die Linke den Kapitalismus akzeptiert. Die Linke ist in einer post-politischen Situation gefangen, weil sie auf dem Territorium der Wirtschaft der Rechten nachgegeben hat: sie hat den Staat den neoliberalen Interessen preisgegeben. Im Kapitalismus und seinen Konsequenzen sehen Linke nur noch selten das eigentliche Übel. Stattdessen ist der Staat das Problem.
»Entpolitisiert« beschreibt sehr gut die Unfähigkeit der derzeitigen Linken, bestimmte Anliegen auf das Niveau des Universellen anzuheben und Probleme so zu präsentieren, dass sie auf etwas anderes verweisen als nur auf sich selbst. Die akademische Linke ist auf den Unwillen, »wir« zu sagen aufgrund eines Zögerns, füreinander zu sprechen, genau so stolz, wie auf den Unwillen, ein Problem aufzuzeigen und zu benennen, es aus seinem eigentlichen Kontext zu lösen und als universell zu präsentieren.
Während Žižeks Version der Post-Politik dabei hilft, das Versagen der modernen Linken zu identifizieren, liegt sie in ihrem allgemeinen Anliegen falsch. Die Rechte politisiert ganz aktiv Schullehrpläne, Klimaforschung, Stammzellenforschung, Strafvollzug, Religion, Ehe-, Adoptions- und Familienrecht, ja sogar Bekleidungsvorschriften. Jedes Anliegen wird dazu verwendet, auf etwas Größeres hinzuweisen, und dient als Hinweis auf Schwäche oder Entschlossenheit, ein Zeichen der Unterstützung für »sie« oder »uns«. Konservative suchen keine individualisierten, therapeutischen oder verwaltungstechnischen Antworten. Sie wollen die Intervention des Gesetzes und erheben ihre Ansprüche auf das Niveau des Universellen. Sie appellieren an Werte wie Keuschheit, Anständigkeit, Frömmigkeit, Einheit, Ordnung und Höflichkeit als universell gültige Prinzipien und Ideale. Auch Neoliberale argumentieren in Bezug auf universelle Werte. Sie behaupten, dass der Markt am besten sei, Produktion, Distribution und Konsum zu verteilen, und zwar nicht nur für die Privilegierten und Reichen. Auch hier verabsäumt es die Idee der Ent-Politisierung, auf die tiefe Verflechtung von Kapitalismus und Demokratie, auf die verordnete Tristesse und die Wechselbeziehung von Gewissheit und Skeptizismus hinzuweisen, die charakteristisch für unsere gegenwärtige Konstellation sind.
Sicher, die zeitgenössische Linke steht nicht ganz ohne Vision da. Sie bekräftigt im Allgemeinen die Vorrangstellung der De-mokratie. Diese Behauptung führt mich zu Wendy Browns Analyse der US-Politik in Bezug auf die Ent-Demokratisierung. In einer ausführlichen Diskussion des Zusammentreffens von Neoliberalismus und Neokonservativismus hebt sie die Ent- Demokratisierung als zentrale Kraft und Bedrohung hervor. Die Details von Browns Analyse vermitteln zwar stimmige Bilder, aber in ihrer Gesamtheit ist die Darstellung nicht überzeugend, da sie eine bereits bestehende Demokratie, eine bereits etablierte Akzeptanz und Praxis von Demokratie voraussetzt, die sich ge-rade auflöst und die Hegemonie demokratischer Rhetorik heute vernachlässigt. Demokratie ist seit langem eine umstrittene Kategorie in der US-Politik: den Rechten des Individuums und des einzelnen Staates untergeordnet, viel weniger geachtet als die Besitztümer und Privilegien der Eliten in Zeiten des Kalten und jedes anderen Krieges, mit leichter Hand zur Seite geschoben. Ängste vor der Tyrannei der Mehrheit, des Pöbels, der EinwanderInnen, KatholikInnen, ArbeiterInnen, Frauen, Schwarzen und der Jungen haben das amerikanische System seit seiner Erfindung beeinflusst. Die Kombination der Bürgerrechts-, StudentInnen- und anderer sozialer Bewegungen in den 1960ern hat – anders als von Brown dargestellt – gemeinsam mit einer blitzartigen Ausbreitung der Kommunikationsmedien, die es den BenutzerInnen erlaubten, ihre Meinungen aufzuzeichnen, politische RepräsentantInnen zu kontaktieren und Versammlungen oder Proteste zu organisieren, sehr wohl demokratische Bestrebungen in einem nie da gewesenen Ausmaß verwirklicht. Sogar eine so banale Statistik wie die Wahlbeteiligung untermauert meine Behauptung, dass die momentane Situation mit der Vorstellung der Ent-Demokratisierung nicht gut getroffen ist: die Wahlbeteiligung im Verhältnis zur wahlberechtigten Bevölkerung in den USA war 2004 die höchste seit 1968.16
Entwicklungen in vernetzten Kommunikationsmedien verstärken die Hegemonie der demokratischen Rhetorik. Weit entfernt davon, ent-demokratisiert zu sein, fetischisiert die heute stattfindende ideologische Formation des kommunikativen Kapita-lismus Sprache, Meinung und Mitwirkung. Der kommunikative Kapitalismus materialisiert demokratische Ideale und Ziele und widmet diese auf eine Art und Weise um, dass der globalisierte Neoliberalismus gestärkt und gestützt wird. Die Vermehrung, Verteilung, Beschleunigung und Intensivierung kommunikativer Zugänge und Möglichkeiten resultieren in einer festgefahrenen Demokratie, die es nicht schafft, als Form für progressiven politischen und ökonomischen Wandel zu stehen. Diese Unfähigkeit ist verbunden mit dem Versagen der Linken, die Demokratie herauszufordern, mit ihrem Unwillen, ihre Art des Träumens neu zu erfinden. Wenn Demokratie sowohl als Voraussetzung der Politik als auch als Lösung der politischen Verhältnisse erscheint, dann wird Neoliberalismus notwendigerweise nicht als die Gewalt erscheinen, die er tatsächlich ist. Trotzdem ist dies genau das, was unter dem kommunikativen Kapitalismus geschieht. Links und Rechts teilen die gleiche Rhetorik der Demokratie, eine Rhetorik, die Ethik und Wirtschaft, Diskussion und Konkurrenz zusammenführt, sodass alles eine Version des anderen wird. Ein Angriffskrieg wird im Namen der »Verbreitung der Demokratie« geführt, während zur gleichen Zeit KritikerInnen dieses Kriegs dieselben Begriffe benutzen, um ihrer Opposition Ausdruck zu verleihen und diese zu imaginieren. Die moderne Linke findet sich also in einer Position des echten Sieges – des Sieges in der Niederlage.
Anmerkungen
1 Slavoj Žižek: »Introduction«. In: Slavoj Žižek presents mao: On Prac¬tice and Contradiction (London, Verso 2007), 24.
2 Eine Diskussion des kommunikativen Kapitalismus finde sich in meinen Publikationen Publicity’s Secret (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2002) und Democracy and Other Neoliberal Fantasies (Durham, NC: Duke University Press, 2009). 3 Chantal Mouffe, The Democratic Paradox (London: Verso, 2000); Slavoj Žižek, The Ticklish Subject (London: Verso, 1999); Jacques Ranciere, Disagreement, übersetzt von Julie Rose (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1999); Wendy Brown, »American Nightmare: Neoliberalism, Neoconservatism, and De-Democraticization,« Political Theory, 34, 6 (December 2006): 690-714.Eine überzeugende Entwick¬lung des Begriffs der Post-Demokratie findet sich bei Colin Crouch, Post-Democracy (Cambridge, UK: Polity Press, 2004).
4 Zygmunt Bauman, The Individualized Society (Cambridge, UK: Polity, 2001) 106.
5 Mouffe, 105. Siehe auch Chantal Mouffe, On the Political (London: Verso, 2005).
6 Carl Schmitt, The Concept of the Political, übersetzt von George Schwab (Chicago: The University of Chicago Press, 1996) 61.
7 Schmitt, 38
8 Rancieres Argument wird noch weiter verkompliziert, da seiner Lesart nach die Störung die Essenz der Politik ist und er Plato als wegweisend für die Ent-Politisierung interpretiert. Falls die Störung die Essenz der Politik wäre, dann ist das Regieren notwendigerweise ent-politisierend. Diese Betrachtung des Regierens erlaubt eine Art permanenter Anfech¬tung ohne jede Verantwortung für Entscheidungen und Umsetzungen. Die linke Politik, die daher bleibt, ist eine Politik des Widerstands. Wenn Jodi Dean 29 außerdem die Probleme der Ent-Politisierung bei Plato beginnen, wie kann dieser Begriff dann zu einer Diagnose der derzeitigen Situation beitragen? Wie ist es etwas anderes als nur das unausweichliche Versa¬gen der Ordnung?
9 Ranciere, 108.
10 Ranciere, 110.
11 Žižek, Ticklish Subject, 198-205.
12 Žižek, Ticklish Subject, 209.
13 Für eine genauere Behandlung dieses Punkts siehe meine Publikation Žižek’s Politics (New York: Routledge, 2006).
14 Žižek, Ticklish Subject, 204.
15 Žižek , Ticklish Subject, 353.
16 55.3 % der US Wählerschaft gaben 2004 ihre Stimme ab, siehe www. infoplease.com/ipa/A0781453.html. Das Census Bureau (Statistisches Bundesamt) berichtet, dass 64% der US Bevölkerung über 18 Jahren sich an den Wahlen beteiligten, siehe www.census.gov/press-release/ www/releases/archives/voting/004986.html Post-Politik? Nein, danke!
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Date | November 2011 |
Location | Vienna |