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Von Knoten zu Knoten. Eine Einleitung

Es gibt kein Entrinnen mehr. Digitale Kommunikationsnetzwerke sind zu einer bestimmenden Dimension unseres Alltags, der Kultur, Politik und Wirtschaft geworden. Um dies festzustellen, muss man noch nicht einmal digitales Gerät benutzen. Die Printmedien berichten täglich mit der für sie immer noch charakteristischen Mischung aus Alarmismus und Verwunderung über die „Neuen Medien“. Dabei sind diese Medien gar nicht mehr neu, auch wenn das ständige Behaupten dieser Neuheit zu ihrem Wesen zu gehören scheint – ebenso wie die damit einhergehende Geschichtsvergessenheit

Es gibt kein Entrinnen mehr. Digitale Kommunikationsnetzwerke sind zu einer bestimmenden Dimension unseres Alltags, der Kultur, Politik und Wirtschaft geworden. Um dies festzustellen, muss man noch nicht einmal digitales Gerät benutzen. Die Printmedien berichten täglich mit der für sie immer noch charakteristischen Mischung aus Alarmismus und Verwunderung über die „Neuen Medien“. Dabei sind diese Medien gar nicht mehr neu, auch wenn das ständige Behaupten dieser Neuheit zu ihrem Wesen zu gehören scheint – ebenso wie die damit einhergehende Geschichtsvergessenheit. In einem Zeitalter, in dem angeblich nichts vergessen wird, können wir uns nicht mehr erinnern, was gestern geschah. Zu gebannt sind wir vom Heute. Und dieses Heute ist dermaßen dynamisch und komplex geworden, dass wir uns das Morgen gar nicht mehr vorstellen können.

Radikale Netzkulturen
Wir sitzen in der Echtzeit-Falle: eine Ideologie, die es erlaubt, alles, was gerade passiert, als das einzig Mögliche, weil das einzige, das in Echtzeit abläuft, darzustellen. Eine Kritik muss also damit beginnen, den Fluss der Echtzeit zu unterbrechen, um andere Rhythmen einschlagen und neue Verbindungen zwischen den Dingen erkennen zu können. In Dekaden statt Minuten zu denken, sensibilisiert uns für bisher unbeachtete Erfahrungen, erlaubt uns, deren Möglichkeiten für die Gegenwart zu erkunden und eine alternative Zukunft vorzustellen. Mit dem vorliegenden Band wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die vergessene Zukunft von Netzkulturen wieder ins Blickfeld zu holen: zum einen, indem wir an Diskussionen und Perspektiven aus der Frühzeit der Netzwerkbildung erinnern, an jenen kurzen Sommer Mitte der 1990er Jahre, als das Internet aus der Enge der Geek-Kultur befreit, aber noch nicht durch kommerzielle Interessen einer neuen Verwertungslogik unterworfen wurde; zum anderen, indem wir diese frühen Erfahrungen dahingehend befragen, inwiefern sie uns Bausteine und Modelle für alternative Zukunftsvisionen jenseits von Google und Facebook liefern können.

In den kurzen Jahren Mitte der 1990er entstand in ganz Europa eine äußerst aktive Medienkulturszene, die sich intensiv, kritisch und experimentell mit den Versprechungen und Risiken der neuen Informationstechnologien auseinandersetzte. Dieser Umstand dient uns als Ausgangspunkt, um solche Pionierprojekte als Experimentierfelder für neuartige Formen des Wissens zu bestimmen und dem damit einhergehenden Wandel zu einer zunehmend vernetzten Gesellschaft nachzugehen. Netzkulturen bilden dabei jenen Teil von Medienkulturen, der sich mithilfe des Internet neue Möglichkeitsräume in politischen, sozialen und kulturellen Aspekten schuf und nach wie vor schafft. Die medienhistorische Bedeutung solcher frühen Netzprojekte besteht darin, den Zugang zu Online- Medien überhaupt erst ermöglicht und damit zu deren gesellschaftlicher Implementierung wesentlich beigetragen zu haben. In Opposition zur kommerziellen Vereinnahmung sowie zur staatlichen Regulierung waren es vor allem diese radikalen Netzkulturen, welche die Möglichkeiten, aber auch Gefahren des Internet für reale Gesellschaften auszuloten wussten. Im Gegensatz zur damals hegemonialen US-amerikanischen Vorstellung vom Cyberspace ging es den europäischen Netzinitiativen der 1990er Jahre gerade nicht um einen neuen Raum, den es zu besiedeln galt, sondern um die Frage nach einer Überlagerung des real existierenden Raums mit digitalen Netzwerken. Diese Perspektive scheint mit der heutigen Ausbreitung „sozialer Medien“ recht zu behalten: Nicht die virtuelle Parallelwelt, sondern das Netz der sozialen Beziehungen gewinnt heute zunehmend an Bedeutung. Doch scheint mit dem Platzen der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende auch das Wissen um das kritische Potenzial der neuen Netzwerktechnologien weitgehend verloren gegangen zu sein, und mit ihm auch die Hoffnung auf eine mögliche Demokratisierung dieser Technologien, zumal die gegenwärtige Fassung des „Web 2.0“ einer weiteren Zentralisierung und Kommerzialisierung unserer digitalen Lebenswelt Vorschub leistet. Zu einer Zeit, als das Internet noch keine allgegenwärtige Realität darstellte, sein künftiges Potenzial aber bereits absehbar war, waren Utopien in Zusammenhang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien noch denkbar. Die daraus entstandenen Praxen und Erfahrungen sollen erstmals für den deutschsprachigen Raum aufgearbeitet werden, um von hier aus nach Alternativen zum heutigen Medienalltag zu fragen.

Eines der Schlüsselmerkmale unserer informationellen Gesellschaft ist die Vernetzung als zentraler Bestandteil ihrer Grundstruktur, wobei sich lokale Knotenpunkte zu einem globalen Netzwerk digitaler Kulturen verknüpfen und damit mühelos Systeme aller Skalen miteinander verbunden werden. Diese Netze bestimmen ihre eigenen Kontexte, Geografien und Referenzpunkte. Jede Außenposition ist damit im Grunde nur die Innenposition eines anderen Netzwerkes, wodurch die Perspektive eines betrachtenden, untersuchenden oder gar widerständigen Außen hinfällig wird. Um mit diesem Problem umgehen zu können, haben sich in den letzten Jahren zwei Analysemodelle herausgebildet: zum einen eine neue quantitative Netzwerkempirie, die versucht, mithilfe gigantischer Datensamples das Netzwerk als Ganzes zu erfassen, um damit eine spezifische Form von Objektivität zu begründen; zum anderen eine radikale Perspektivität in dem Sinne, dass das jeweilige Netzwerk so beschrieben wird, wie es aus der Sicht eines bestimmten Knotens erscheint. Während der quantitative Ansatz die Möglichkeit einer Globalperspektive zumindest behauptet, bleibt der zweite Ansatz einer partiellen Sicht verpflichtet. Eine Sicht, die sich von Knoten zu Knoten verändern muss, da jeder dieser Knoten seine eigenen Verbindungen und damit seine eigenen Perspektiven beinhaltet. Dies impliziert aber nicht notwendigerweise eine Rückkehr zum engen Sichtfeld der Lokalgeschichte, sondern legt den Fokus vielmehr auf die Multiplizität und Multikontextualität der Netzwerke selbst. Daraus ergibt sich die Forderung, sowohl für die Forschung als auch für die politische Arbeit globale Netzwerke an ihren konkreten Knoten zu materialisieren, um damit einen zunehmend globalisierten und digitalisierten Raum erfahrbar und lesbar zu machen.

Wiener Knoten
Den für diese Publikation zentralen Netzwerkknoten, von dem aus die europäische Netzkultur betrachtet wird, bildet das Wiener Institut für neue Kulturtechnologien/t0. Deren Projekt Public Netbase repräsentierte seit seiner Gründung 1994 einerseits die europäische Netzkulturszene, deren wichtigste VertreterInnen mit der Medieninitiative eng verbunden waren, andererseits spiegelte Public Netbase ein lokales Umfeld wider, das neben Amsterdam, Berlin, Ljubljana, Rom oder Riga ein eigenes Profil entwickeln konnte. Aus der Perspektive dieses konkreten Knotens sollen im vorliegenden Sammelband die diskursive, mediale und technologische Zusammensetzung der frühen Netzkulturen in Europa untersucht und dadurch produktive Anschlüsse an aktuelle Debatten und Diskussionen im Zusammenhang mit den „sozialen Netzwerken“ geschaffen werden. Anhand von Originaldokumenten, reflektierenden Textbeiträgen und kontextualisierenden Interviews wollen wir jene kritische Haltung europäischer Netzkulturen in Erinnerung rufen, die uns für einen differenzierten Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien notwendig erscheint. Denn die „NetzpionierInnen“ antizipierten bereits eine Vielzahl jener Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, die durch die massenhafte Verbreitung der digitalen Technologien zum medialen Alltag werden sollten. Sie bilden also gleichsam den Ort, an dem die utopischen und ästhetischen Momente jener Zeit erfahrbar und damit diskutierbar bleiben. Damit verbunden ist die Hoffnung, eine alternative Sichtweise anbieten und somit in die aktuelle Auseinandersetzung um unsere technokulturelle Zukunft eingreifen zu können.

Aufbau des Buches
Mit „Räume der Vernetzung“ werden im ersten Teil die frühen Vernetzungsbemühungen innerhalb der europäischen Netzkulturen untersucht, wobei der Austausch aus Sicht von Public Netbase sowohl auf nationaler (Virtuelle Plattform Österreich, später konsortium.Netz.kultur) als auch auf internationaler Ebene (European Cultural Backbone) erfolgte. Als „Wiener Knoten“ war man damit – neben Amsterdam, Berlin oder Ljubljana – auch Anlaufstelle für Vernetzungstreffen der nettime-Mailingliste, welche eines der einflussreichsten Kommunikationsmedien jener Jahre darstellte und den Gebrauch „taktischer Medien“ forcierte. Damit verbunden waren nicht alleine Interventionen in mediale, sondern auch Kämpfe um urbane Räume, wie dies am Beispiel des Wiener MuseumsQuartiers (MQ) ersichtlich wird. Der Fokus auf konkrete Auseinandersetzungen leitet über in den zweiten Teil des Buches. In „Praxen des Widerstands“ geht es um neue Formen des künstlerischen und politischen Aktivismus. Auf lokaler Ebene war hierbei nicht zuletzt der Protest gegen die „schwarzblaue“ Bundesregierung der ÖVP mit der rechtsextremen FPÖ prägend, zumal unterschiedliche kulturelle Felder (Techno-, Hacker- und Jugendkulturen) in einer äußerst breiten Bewegung zusammenflossen. Am Beispiel von Public Netbase lässt sich zeigen, dass dieser Auseinandersetzung bereits ein länger andauernder „Kulturkampf“ vorausging. Eine widerständige Haltung scheint dann auch eines der Charakteristika der radikalen Netzkulturen zu sein, wie sie u. a. im italienischen Cyberpunk und in der subversiven Strategie der Association of Autonomous Astronauts (AAA) zum Ausdruck kamen. Der dritte Teil, „Kultu-ren der Partizipation“, beschäftigt sich schließlich mit der Frage nach dem Zugang zu und dem Gebrauch von neuen Informationstechnologien. Hier spielten die Netzkulturinitiativen der 1990er Jahre eine wesentliche Rolle, indem sie neben der nationalen und internationalen Vernetzungsarbeit auch als regionale Medienkompetenz- und Vermittlungsplattformen agierten. Damit verbunden war die Forderung nach einem „Access for All“ und die Wiederbelebung der Do-It-Yourself-Bewegung (DIY), wie sie vor allem in der Hacker- und Technoszene erfolgte. Zudem standen Strategien des Empowerment sowohl auf technologischer (z. B. Workshops) als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene (z. B. Cyberfeminismus) im Mittelpunkt der frühen Netzkulturen.

Jedes dieser Kapitel besteht aus drei Teilen: erstens aus „Essays“, die zentrale Dimensionen und Ereignisse der radikalen Netzkulturen aus heutiger Sicht beleuchten. Sie bieten sowohl historische Aufarbeitung als auch eine Einordnung in aktuelle Debatten. Zweitens bestehen sie aus „Interviews“. Hier kommen wichtige AkteurInnen der Netzkulturen zu Wort und lassen ein poly-subjektives Bild der Ansätze und Projekte entstehen. Dabei zeigen sich auch Bruchlinien und Widersprüche, die aber wesentlich zu dieser Kultur gehören. Drittens enthält jedes Kapitel „Dokumente“, die die historische Perspektive wiedergeben und damit ein Gegengewicht zum rückblickenden Charakter der ersten beiden Teile bilden. Besonders in diesen Dokumenten kommen Zukunftsvisionen zum Ausdruck, deren Vergessen uns allen zum Schaden gereicht.

Danksagung
Wir möchten neben den AutorInnen vor allem den InterviewpartnerInnen danken, die von Clemens Apprich in einem Zeitraum von Oktober 2010 bis April 2011 befragt wurden. Die meisten von ihnen waren selbst Teil der radikalen Netzkulturen der 1990er Jahre und tragen dazu bei, die unterschiedlichen und teils auch gegensätzlichen Erfahrungen aus jener Zeit relevant zu halten. Zudem gilt unser Dank dem Institut für neue Kulturtechnologien/ t0 sowohl für die freundliche Bereitstellung des Materials (Originaldokumente und Bilder) als auch für die Unterstützung im Produktionsablauf (Transkription der Interviews, Übersetzungsarbeit und Lektorat). Letzteres gilt auch für den transcript-Verlag, der uns von Beginn an mit viel Geduld zur Seite stand. Die Finanzierung des Buches wurde unterstützt durch das österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, die Wissenschaftsabteilung der Stadt Wien sowie den Verein Stadtimpulse in Wien.

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