Protest! Von der Koordination zum Projekt? Thesen zum Wandel der Vergesellschaftung und Assoziierung in sozialen Bewegungen sowie zur Artikulation des Politischen im kognitiven Kapitalismus
Der folgende Beitrag beinhaltet Thesen zur Diskussion, die im Rahmen aktivistischer Debatten über die Bedingungen und die derzeit wahrnehmbaren Veränderungen der Artikulation von Protest durch soziale Bewegungen von verschiedenen Seiten geführt werden (u.a. im Rahmen der Diskussionen um das vom Verfasser gemeinsam mit Ove Sutter herausgegebene Buch »Kommt herunter, reiht Euch ein …« zur Geschichte der Pro-testformen sozialer Bewegungen (Schönberger/Sutter 2009): Es geht dabei darum, den Begriff des »Projekts« auf der inhaltlichen Ebene und die »Koordination« auf der organisatorischen Ebene als gegenüber der »Gemeinschaft« alternative Praxen der Assoziierung kenntlich zu machen.
Diese Begriffe markieren zugleich den Versuch auszuloten, welche Möglichkeiten der gegenwärtige gesellschaftliche Wandel (kognitiver Kapitalismus, Postfordismus etc.) für die Assoziation als Freie und Gleiche mit sich bringt. Denn dieser Wandel tritt nicht nur als Krise der (politischen) Repräsentation politischer Parteien oder Großorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen etc. in Erscheinung, sondern wird auch auf der Ebene von ‚Militants‘, AktivistInnen und FunktionärInnen innerhalb sozialer Bewegungen spürbar und offensichtlich. Dabei geht es nicht um eine weitere Erzählung über Politikverdrossenheit oder Entpolitisierung, sondern um die Frage nach den veränderten Bedingungen des Politischen. Wie steht es um die Möglichkeit einer autonomen und selbstbestimmten Organisierung sowie für eine antagonistische Position innerhalb des neoliberalen und globalisierten Kapitalismus? Hierbei gesellt sich zur Frage nach dem »revolutionären Subjekt« und seinen Subjektivierungsweisen auch die Frage nach dem Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation (die im Folgenden in Thesenform vorläufig beantwortet werden soll).
Gemengelage
Der politische Aktivismus kann auf eine lange Reihe von Vergesellschaftungsformen zurückgreifen. In der Theorie der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts (Thomas Hobbes) drängte der imaginierte homogene Wille des »Volkes« die »Multitude« zurück. Da die »Menge« (im Sinne von Spinozas Multitudo) als staatsbedrohlich zum Verschwinden gebracht wurde (Virno 2005), bezog sich die aufkommende Arbeiterbewegung auch in erster Linie auf den vereinheitlichenden Begriff des »Volkes«. Karl Marx sah hingegen die Notwendigkeit der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse im Übergang der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘ und gründete gemeinsam mit Friedrich Engels den »Bund der Kommunisten«. Die »Erste Internationale« wurde 1866 als »Internationale Arbeiterassoziation« von der englischen Trade-Union-Bewegung und den französischen Arbeitervereinen initiiert. Hier waren noch AnarchistInnen und KommunistInnen vereint. Das motivierte 1870/71 in Frankreich die »Commune«. Die (deutsche) sozialdemokratische Arbeiterbewegung gründete Vereine nach dem bürgerlichen Gesetzbuch. Die ersten Gewerkschaften gingen aus den Hilfs- und Unterstützungskassen hervor. Die Bolschewiki erfanden die Kaderpartei und den demokratischen Zentralismus. Der Anarchosyndikalismus setzte auf einen »Lokalismus« (lokale Vereinigungen). 1968, im Zuge der antiautoritären Revolte, betrat die Kommune 1 die Bühne und konkurrierte mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Dieselbe aktualisierte das Schreckgespenst der »Commune« als Spaßguerilla. Im Gefolge der 68er-Bewegungen entstanden die neuen sozialen Bewegungen, in Deutschland als Bürgerinitiativen, Alternativbewegung und Friedensbewegung, in Italien die Autonomia Operaia und 1977 die Stadtindianer. In Lateinamerika kämpften Stadtguerilla und Tupamaros. Als westeuropäisches Pendant kämpften in Italien nunmehr die Roten Brigaden, in Westdeutschland die Rote Armee Fraktion und die Revolutionären Zellen. Die Black Panther Party artikulierte das in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gefundene Selbstbewusstsein der Afro-AmerikanerInnen. Die »Poplinken« bescherten uns in den 1980er und 1990er Jahren Modelle wie die »Band« oder die »Posse«. Für Michael Hardt und Antonio Negri (2000, 415) begründet das »posse« sogar eine »neue Wirklichkeit des Politischen«, weil der Begriff die »singuläre Subjektivität« der Multitude »am besten zu erfassen« vermag. Mit der Wieder-»Erscheinung« der Multitude als theoretisches Konzept im Zuge der Globalisierungskritikbewegung (1999ff.) war aufgrund der theoretischen Implikationen aber auch klar, dass es zu einer Neuauflage der klassischen »Organisationsfrage« kommen muss. Damit verbunden ist aber nicht nur die Frage nach Formen einer antagonistischen Selbstorganisierung und der Artikulation von Protest, die den sich wandelnden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen angemessenen ist, sondern immer auch die Frage nach dem jeweils veränderten Charakter des Politischen.
Hardt/Negri (2004, 87) kritisieren den Reduktionismus traditionell linker Vorstellungen über den Modus der Insurrektion (im Sinne von politischem Aufstand und politischer Erhebung). Demnach zeichnen sich diese Ideen (mit Blick auf die Pariser Commune bis zur Oktoberrevolution) durch jenen Schematismus aus, wonach die aufständischen Massenbewegungen politische Avantgarden hervorbringen, der Bürgerkrieg die Einsetzung einer Revolutionsregierung ermöglicht, Organisationen der Gegenmacht eingerichtet werden (welche auf Hegemonie und die Eroberung der Staatsmacht abzielen) und schließlich die Diktatur des Proletariats errichtet wird. Heute sei »eine solche Abfolge revolutionären Handelns« kaum mehr vorstellbar: »Die Insurrektion verläuft nicht länger in Stufen, sondern entwickelt sich simultan.« Demnach seien »Widerstand, Exodus, die Aushöhlung der Macht des Feindes und die Errichtung einer neuen Gesellschaft durch die Multitude ein und derselbe Prozess« (ebd.). Die Wiederbelebung kann daher nur auf der Grundlage neuer Praktiken und Organisationsformen sowie neuer Konzepte erfolgen (ebd., 247). Allerdings finden diese neuen sozialen Or-ganisationsformen in der traditionellen wie institutionalisierten Linken mitunter ihre größte Feindin. Sie erscheinen ihnen unverständlich, ungeheuerlich bis bedrohlich (ebd., 216). Das beruht aber eben nicht nur auf dem Unverständnis für veränderte Formen, sondern hat eben auch mit unterschiedlichen politischen Interessen und sozialen Trägergruppen zu tun. Insofern macht es Sinn, wenn Hardt/Negri (ebd., 215) vor der nostalgischen Sehnsucht der gemäßigten europäischen Linken nach »traditionellen sozialen Formen und Gemeinschaften« warnen, die sich zudem in Europa meist nicht in »Klagen über die Isolation und den Individualismus unserer Zeit, sondern in der sterilen Wiederholung längst überholter Gemeinschaftsrituale« ausdrücken.
1. Von der Gemeinschaft zur Koordination und zum Projekt: Während in den Jahrzehnten nach 1968 identitäre Formen von Vergemeinschaftung (oder genauer: »Vergesellschaftung«) in verschiedenen politischen Kontexten dominierten, hat sich im Zuge dessen, was gegenwärtig als Multitude analysiert wird, eine nicht-identitäre Version von Assoziation in Gestalt der Ko-ordination und in Form des Projekts herauskristallisiert. Die Koordination ist netzwerkförmig. Sie ermöglicht ein Modell demokratischer Organisation und entspricht darüber hinaus den gegenwärtig vorherrschenden Formen von Arbeit wie sozialer Vergesellschaftung. Ein Projekt ist instabil, vorläufig und nicht nachhaltig. Allenfalls die Tatsache, dass allenthalben Projekte zu Ende gehen und wieder begonnen werden, ist eine stetige Erfahrung gegenwärtiger AktivistInnen.
2. Erfolg ohne hegemonialen Anspruch: Manuel Castells (2001/1996) diagnostiziert innerhalb der neuen sozialen Bewegungen zunehmend Fragmentierung, Lokalismus und Schnell¬lebigkeit: »Mit steigender Kurzlebigkeit tendieren die sozialen Bewegungen dazu, sich zu fragmentieren, sich eng zu lokalisieren, sich auf ein einziges Problem zu konzentrieren, das sie in ihrem internen Universum einrahmen oder das sie durch ein medienwirksames Symbol zum Leuchten bringen.« Ein Projekt braucht kein Programm, und daher wird auch keine Hegemonie beansprucht. Ein Projekt im Rahmen von sozialen Bewegungen richtet sich gegen bestimmte Aspekte innerhalb der globalisierten kapitalistischen Produktionsweise (und muss dieselbe nicht einmal beim Namen nennen) und kann dennoch fallweise oder temporär im konkreten Handgemenge auch »gewinnen« oder zumindest partiell obsiegen. Projekte richten sich selten gegen »das Ganze«, sondern bleiben bruchstückhaft, erscheinen manchmal auch beliebig. In vielen Fällen erscheinen sie erfolgversprechender als Versuche, sich als Bewegung mit einem vereinheitlichenden Programm zu verabreden.
3. Gleichgerichtete Vielstimmigkeit der Multitude: Das Projekt verweist auf eine Organisierung, die im Französischen mit dem Begriff des »néomilitantisme« bezeichnet wird und der die dezentrale Organisationsform des Netzwerks eigen ist. Diese Form ist an einem präziser umrissenen Projekt ausgerichtet und zielt aber nicht auf eine inhaltlich weitreichende Gemeinsamkeit: »Die Neo-Aktivisten zeichnen sich durch die Vielfalt von Wegen aus, die sich jeweils durch die Bescheidenheit, nur auf eine Thematik beschränkt zu sein, auszeichnen. Das Engagement wird zunehmend in der Vielfalt der Projekte und deren Forderungen ausgehandelt, die gleichzeitig auf einem kollektiven oder individuellen Niveau ausgeführt werden. Was vor allem für die ‚Néo- Militanten‘ zählt, ist, sich nicht mehr in einer ideologisch klar definierten Organisation zu engagieren, sondern eher Projekte zu initiieren oder an Projekten, die andere ins Leben gerufen haben, mitzuwirken und alle Verbindungen zu nutzen, die in dieser Hinsicht hilfreich erscheinen« (Fabien Granjon 2002). Meist wird am Beispiel der Proteste gegen den WTO-Gipfel in Seattle (1999) berichtet, in welcher Weise als völlig gegensätzlich eingestufte Gruppen »plötzlich ohne jede zentrale Einheit stiftende Struktur, der sie ihre Differenzen unterordnen, gemeinsam agierten« (Hardt/Negri 2004, 244). Für viele lag »der Zauber von Seattle« darin, dass trotz aller Unterschiedlichkeit viele dieser Proteste »nicht nur eine zufällige, willkürliche Ansammlung waren, eine Kakophonie unterschiedlicher Stimmen, sondern ein Chor, der sich gemeinsam gegen das globale System erhob« (ebd., 319). Dieses Modell, so Negri/Hardt, zeige sich schon bei einem Blick auf die Organisationsformen, bei der die verschiedenen Gruppen nicht zusammenkommen oder konvergieren würden, »um sich zu einer großen, zentralisierten Gruppe zu vereinigen; sie bleiben unterschiedlich und unabhängig, aber sie verknüpfen sich zu einer Netzwerkstruktur«. Vielmehr bestimme dieses Netzwerk »sowohl ihre Singularität wie ihre Gemeinsamkeit, ihre ‚Kommunalität‘« (ebd.).
4. Beliebigkeit der Multitude? Auf inhaltliche Gemeinsamkeiten hebt auch Naomi Klein (2003) ab, wenn sie über ihre vielen weltweiten Besuche bei Protestgruppen berichtet, die gemeinsame Elemente aufweisen und darüber hinaus in einem großen offenen Netzwerk miteinander verbunden sind. In der wissenschaftlichen Bewegungsforschung (z.B. Isabelle Sommier) wurde bereits konstatiert, dass ungeachtet der Vielzahl an Einzelbewegungen dennoch gemeinsam geteilte Handlungsmotivationen bestünden. Hierzu zählen in einer europäischen Perspektive
• die Solidarität mit den Ländern im Trikont,
• die Kritik an transnationalen Konzernen,
• die ökologische Frage.
Die Erwartung eines neuen Sturms auf den Winterpalais im Sinne einer revolutionären Erhebung ist kaum noch anzutreffen. Der Neoliberalismus ist das gemeinsame Metathema aller GlobalisierungskritikerInnen (Achim Brunnengräber) und ein weiteres verbindendes Element besteht im Versuch, die Com¬mons zurückzuerobern (Naomi Klein). Damit sind Gemeingüter gemeint, also »öffentliche Infrastrukturen wie Universitäten und Verkehrsbetriebe, natürliche Ressourcen wie Wasser und Saatgut oder Technologien wie freie Software, die nicht unter Copyright lizenziert werden« (Vogel o.J., 61). Die Forderung nach einer Vertiefung der Demokratie ist ein weiteres gemeinsames Thema.
Inwiefern diese Offenheit auch die Gefahr der mangelnden Abgrenzung gegenüber rechten und rechtsextremen Positionen beinhaltet, wurde oft diskutiert. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass dies keineswegs ein neues Problem ist (vgl. Schönberger/Sutter 2009) und dass es nicht nur bei den Protestformen auf den Kontext und den Bedeutungszusammenhang ankommt, sondern auch bei den Inhalten, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten sehr Verschiedenes bedeuten oder implizieren können. Damit ist zudem die Erkenntnis verbunden, dass es keinen sicheren Ort der (Ideologie-) Kritik mehr geben kann, weil auch das Innen und Außen zunehmend verschwimmen. Das heißt, dass ein »fortschrittliches« und emanzipatorisches Handeln oder Argument sehr schnell reaktionär oder indifferent werden kann, wenn sich die Rahmenbedingungen, sprich die Kontexte zu verschieben beginnen. Vor diesem Hintergrund ermöglicht der Projektmodus sehr viel schnellere Anpassungs- und Ausweichmöglichkeiten als der identitäre Modus von Bewegungen.
5. Arbeitsorganisation und Protest: Im kognitiven Kapitalismus und dem mit ihm relevanten postfordistischen Arbeitspa-radigma entwickelte sich das Projekt zu einer zentralen Form der Arbeitsorganisation. Der damit verbundene »neue Geist des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2003) zielt auf Beschleunigung, Diskontinuität, Vernetzung, »flache Hierarchien«, radikale Verflüssigung der Arbeitsabläufe und unbürokratische Formen der Organisation. Das Ziel in dieser neuen Epoche des Kapitalismus besteht in der Intensivierung von Arbeit und Produktivität. Es ist darüber hinaus klar, dass ein Projekt nur eine bestimmte Zeit existiert und sich danach wieder auflöst: »Die Kohäsionskräfte von Primärgruppenbeziehungen sollen genutzt, das Störpotential persönlicher Zu- oder Abneigungen aber ebenso minimiert werden wie innovationshemmende Koopera-tionsroutinen« (Klopotek 2004, 217).
Angesichts der vielfachen Beobachtung, dass die Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit unscharf geworden ist, stellt sich die Frage, inwiefern Projekte der Artikulation von Protest und Versuche der Selbstorganisation unter Umständen eine Entsprechung der organisationskulturellen Entwicklung in den Betrieben der postfordistischen Ökonomie sind. Wenn dem so wäre, würde nach Hardt/Negri (2004, 105) die netzwerkförmige Organisation »zugleich die mächtigste Waffe gegen die herrschende Machtstruktur«, da der Widerspruch gegen die herrschenden Verhältnisse aus deren konstitutiven Merkmalen entsteht. Demnach »ist das Netzwerk zu einer gemeinsamen Form geworden, die für unsere Art, die Welt zu verstehen und in ihr zu handeln, immer bestimmender wird. Der in unseren Augen wichtigste Aspekt dabei ist, dass Netzwerke die Kooperationsform der kooperativen und kommunikativen Beziehungen sind, die durch das Paradigma der immateriellen Produktion geboten sind. Die Tendenz, dass diese gemeinsame Form entsteht und hegemonial wird, bezeichnet die gegenwärtige Epoche« (ebd., 163). Ein Beispiel für diese projektförmige Vorgehensweise sind die italienischen Tute Bianche, die nach Genua (2001) beschlossen hatten, »zu verschwinden« (Hardt/Negri 2004, 296):
»Die Zeit sei vorbei, da eine Gruppe wie ihre die Bewegungen der Multitude anführen sollte. Sie hatten ihre Rolle als Organisatoren der großen Proteste bei internationalen Gipfeltreffen erfüllt; sie hatten daran mitgewirkt, die Protestbewegungen auszuweiten und ihnen politische Kohärenz verliehen; und sie hatten versucht, die Protestierer zu schützen und deren Aggressivität von kontraproduktiver Gewalt in Richtung kreativer – oftmals ironischer – Ausdrucksformen zu lenken. Die vielleicht wichtigste Erfahrung der ‚Tute Bianche‘ war jedoch, dass sie eine den neuen Arbeitsformen adäquate Protestform geschaffen – Organisation in Netzwerken, räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität – und sie als kohärente politische Kraft gegen das neue globale Machtsystem organi-siert hatten« (ebd.).
6. Koordination als Reartikulation der sozialen Frage: Maurizio Lazzarato (2004) spricht von der neuen Organisationsform der »Koordination«, die er zugleich als »Flucht aus den Institutionen und Regeln der Politik« beschreibt. Für ihn ist damit zugleich eine andere Form der Artikulation des Politischen verknüpft. Es geht um eine Logik der »Verweigerung« und des »Dagegen«-Seins, die auf eine Teilung zielt, die nur scheinbar die Freund-Feind-Dichotomie reproduziert: »Auf der zweiten Ebene entfalten die individuellen und kollektiven Singularitäten, welche die Bewegung konstituieren, eine Dynamik der Subjektivierung, die eine Zusammenführung gemeinsamer Ausgangspunkte (kollektive Rechte) und zugleich die differenzielle Affirmation einer Mannigfaltigkeit von Ausdrucks- und Lebenspraxen ist. Flucht. Praktiken des politischen Sich-Entziehens auf der einen Seite, Konstituierung, Strategien des ‚Empowerment‘ auf der anderen.« Daraus erfolge die Unverständlichkeit und Undurchsichtigkeit für die AkteurInnen des traditionellen politischen Feldes.
In ihrem jüngsten Buch »Commonwealth« zitieren Hardt/Negri (2010, 122f.) den bolivianischen Theoretiker Alvaro Garcia Linera, um zu begründen, warum sie die Multitude »als Protagonistin eines kohärenten politischen Projekts« verstehen: »Multitude wäre demnach die Form einer politischen Organi-sierung, die, während sie die Vielfalt der kämpfenden sozialen Singularitäten hervorhebt, darum bemüht ist, ihr gemeinsames Handeln zu koordinieren und darüber hinaus durch die Schaffung nichthierarchischer, horizontaler Strukturen die Gleichheit der Beteiligten zu wahren. Am Beispiel der so genannten Coordinadora, die »Koordination zur Verteidigung des Wassers« sehen sie die Realisierung einer politischen Struktur, »die nicht nur verschiedene Teile der Arbeiterklasse und nicht nur eine Vielzahl ethnischer und kultureller Gruppe organisiert, sondern zugleich beide Achsen miteinander verbindet« (2010, 122f.). Alvaro Garcia Linera verstehe die Fragmentierung der Bewe¬gungen als Ausdruck der »strukturellen Segmentierung der ge-sellschaftlichen Realität selbst, entlang ethnischer, kultureller und politischer Linien, der Klassenlage und der Herkunft«. Li¬nera selbst bezieht sich gleichermaßen auf den Netzwerk-Ge-danken: »Wir sind daher verpflichtet, die Mittel neu zu erfinden, die eine Reartikulation des Sozialen erlauben, und zwar nicht als hierarchische Fusion, sondern in Form provisorischer, horizon¬taler Netzwerke« (Linera 2004 zit. n. Hardt/Negri 2010, 123).
7. Für ein richtiges Leben im Falschen: Ein Projekt ist also nicht auf Dauer angelegt. Es richtet sich gegen bestimmte Zustände, artikuliert die Ablehnung, Verweigerung oder gar Antagonismus. Es artikuliert auch etwas Gemeinsames ganz unterschiedlicher Individuen oder AkteurInnen. Wir sehen hier einerseits eine negative »Vergemeinschaftung« als Form der Vergesellschaftung, andererseits lassen sich solche Projekte zugleich als Assoziation gegen Entmutigung und Resignation verstehen. Ein Projekt ermöglicht für manche erst ein gesellschaftliches Handeln, für andere das Weitermachen. Es verweist auf ein richtiges Leben im Falschen: »Die Selbstkonstituierung als Mannigfaltigkeit wird nicht dem Kampf gegen die Imperative der Macht geopfert. AktivistInnen schlagen weiterhin Initiativen vor und stehen am Ursprung von Neuanfängen, aber nicht im Sinne der Logik der Verwirklichung eines Idealplans oder einer politischen Linie, die das Mögliche als vorweg bereits gegebenes Bild des Wirklichen begreift; sondern vielmehr im Sinne einer konkreten, aus der Situation erwachsenden Intelligenz, welche die AktivistInnen dazu verpflichtet, ihre eigene Identität, ihre Weltsicht und ihre Handlungsmittel aufs Spiel zu setzen« (Lazzarato 2004).
8. Protest versus Distinktion: Ein Projekt bedeutet also nicht »Un-organisiert«. Post-identitäre Projekte werden koordiniert. Ihre Flüchtigkeit und die ihr zugrundeliegende Mannigfaltigkeit ist zugleich ihr Potenzial. Wenn wir uns gegenwärtig den breiten Protest gegen »Stuttgart 21« anschauen (Schönberger 2010), dann wird offensichtlich, dass eine zentrale Entwicklung momentan darin besteht, dass Protest nicht mehr überwiegend an einen irgendwie gearteten alternativen oder subkulturel¬len Lebensstil gebunden erscheint. Wenn die bundesdeutsche Sozialstrukturforschung in den 1980er Jahren noch regelrecht Milieus festmachen konnte, in denen sie den Protest qua Lebensstil zu verorten vermochte (SINUS-Studie), so erscheint Protest gegenwärtig kaum noch an solche Milieus gebunden. Öffentlicher Protest und der Anspruch auf Partizipation lassen sich nicht mehr in dieser Weise sozial verorten (und damit auch unschädlich machen), wie das vor einigen Jahren noch möglich gewesen ist. Proteste in Form von Projekten haben sich als Praxis der Artikulation von Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen weit in das gesellschaftliche Feld und den Alltag ausgebreitet.
Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass den einstigen AktivistInnen Protest heute merkwürdig entpolitisiert dünkt. Wenn nämlich mit Protest nicht mehr automatisch Lebensstil-Avancen verknüpft sind (wenn etwa Protest nicht mehr in der bisher gekannten Weise zur Distinktion dient), geht es in deren antiquierten Sicht auch nicht mehr um das »Ganze«. Der Wandel der Artikulationsbedingungen hat sicherlich auch noch mit verschiedenen anderen Faktoren zu tun. So verfügt gegenwärtig niemand mehr über eine hegemoniefähige große Erzählung (»Eine andere Welt ist möglich«). Zwar ist über die Finanzkrise auch das TINA-Denken des Neoliberalismus (»There Is No Alternative)« blamiert worden, aber hierüber hat sich noch keine mobilisierende alternative Idee über die Natur der gesellschaftlichen Beziehungen herausbilden können.
9. Seattle in Stuttgart: In Deutschland aktualisiert der Protest gegen Stuttgart 21 die Erfahrungen von Seattle. Ein in dieser Breite bisher nicht gekannter Protest formiert sich hier nicht als Bewegung, sondern im Sinne der Multitude als Projekt. Dabei ist es eben keine Schwäche dieses Stimmengewirrs, dass auch die so genannte »Killesberger Halbhöhenlage« der Stuttgarter Mittelklassen eine wichtige Rolle für die Dynamik und die Kraft des Protestes spielen. Selten gab es einen so informierten und aufgeklärten Protest, der gleichermaßen argumentiert wie handelt. In der vorfindbaren Vielstimmigkeit finden sich darüber hinaus zwar sehr viel Eigensinn, aber eben keine reaktionären Metaphern (wenn man mal von wohl unvermeidbaren Heimattümeleien absieht). In dieser Konstellation gelang es beispielweise den Stuttgarter Zeitungen nicht, mit der Gewaltfrage die Proteste zu spalten. Die Stärke des Widerstandes besteht gerade darin, dass es keiner militanten Handlungen bedarf, sondern die Vielstimmigkeit aber auch die soziale Breite eine Dynamik und Kraft freisetzt, die eine wochenlange Massenmobilisierung ermöglichte und zugleich sich nicht an die vorgegebenen Regeln der repräsentativen Demokratie halten will und muss. Hier soll ein Milliardengrab verhindert und kein Lebensstil propagiert werden. Und dennoch geht es um mehr. Es geht um mehr als um Bäume, Parkschutz usw. Es geht um die Frage der Macht in re-präsentativen Demokratien, die Verwendung von ökonomischen Ressourcen sowie ganz allgemein um die Frage nach dem richtigen Leben. Bei Stuttgart 21 ist es gelungen, ein allgemeines gesellschaftliches Unbehagen im Rahmen eines gemeinsamen Projekts zu bündeln. Das gegenwärtige generelle Unbehagen über das, was als »Globalisierung«, »Prekarisierung« oder »Krise« abstrakt bleibt, mündet hier in einer konkreten Ausein¬andersetzung (vgl. a. Schönberger 2010).
10. Fazit: Die Assoziation freier und gleicher Menschen bedarf weniger einer identitären Gemeinschaft als vielmehr der Verknüpfungen der Vielen. Es stehen zur Wahl: Mannigfaltigkeit gegen Gemeinschaft, da »jeglicher Versuch einer Totalisierung oder homogenisierenden Verallgemeinerung, jeglicher Versuch der Konstituierung eines ausschließlich der Repräsentation zugewandten Kräfteverhältnisses sowie der Einrichtung hier-archischer Organisationsmodalitäten« (Lazzarato 2004) eine Koordination und ein Projekt zum Scheitern verurteilt. Diese Projekte sind mehr als nur Party. Sie erscheinen gegenwärtig als naheliegende und adäquate politische Organisationsform und gehen mit Überlegungen einher, was momentan als das Politische analysiert werden kann. Und das stimmt hoffnungsfroh: Das Politische, das Dagegensein konstituiert hier keinen Anspruch mehr auf Macht, auf Hegemonie, sondern will diese Hegemonie destruieren und die Macht abschaffen.
Literatur
Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus Konstanz 2003.
Castells, Manuel: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter. Opladen 2004 (1996). Granjon, Fabien: Les répertoires d‘action télématiques du néo-militantisme. In: Le Mouvement Social, 2002/3, Nr. 200, S. 11–32.
Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Em¬pire. Frankfurt/M. New York 2004. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Commonwealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt/M. New York 2010.
Klein, Naomi: Demokratisierung der Bewegung. Beim ersten Weltsozialforum konnte keine einzelne Agenda die Diversität fassen. In: Klein, Naomi: Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 233-249.
Klopotek, Felix: Projekt. In: Bröckling, Ulrich/Krasman, Susanne/Lembke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004, S. 216-221.
Lazzarato, Maurizio: Die politische Form der Koordination. In: Transversal 06/2004. Online-Publikation. http://eipcp.net/transversal/0707/lazzarato/de [Stand 01.09. 2010].
Moulier-Boutang, Yann: Marx in Kalifornien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bei¬lage zur Wochenzeitschrift DAS PARLAMENT, B 52-53 (2001), S. 29- 37. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/files/62G035.pdf [Stand 01.09. 2010].
Schönberger, Klaus: Projekte statt Bewegungen: Was uns der Protest gegen Stuttgart 21 über neue Formen des Politischen sagt. Interview. In: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 553, 17.9. 2010. Schönberger, Klaus/Sutter, Ove: Kommt herunter, reiht euch ein … Zur Form des Protesthandelns sozialer Bewegungen. In: Schönberger, Klaus/Sutter, Ove (Hg.): Kommt herunter, reiht euch ein! Kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen. Berlin 2009, S. 7-29.
Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Wien 2005.
Vogel, Steffen: Das Weltsozialforum: Geschichte und Gegenwart. In: Bois, Marcel/Hüttner, Bernd (Hg.): Beiträg zur Geschichte einer pluralen Linken. Heft 2. Theorie und Bewegungen nach 1968. Berlin Online verfügbar unter: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/.../Pa-pers_Beitr_zur_Gesch_2.pdf [Stand 01.09. 2010].
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Date | November 2011 |
Location | Vienna |